Henningstadt
glaube, er ist in Berlin.»
«Und du stellst dich auf den Bahnhof und rufst nach ihm, oder was?»
«Ich hab eine Adresse, wo er ist. Kannst du bei mir zu Hause anrufen und Bescheid sagen», Henning holt Luft «dass es mir gut geht und dass es mir Leid tut und dass ich Anfang der Woche wiederkomme? Montag hab ich so wieso nur drei Stunden, das ist nicht so schlimm.»
«Was ist denn los? Habt ihr euch gezofft?»
«Ich hab erzählt, das ich schwul bin.»
«Oh!», sagt Isa.
«Ja», sagt Henning.
«Und — wie haben sie reagiert?»
«Ruhig. Haben geweint. Mama vor allem.»
«Und dann f ä hrst du weg!»
«Ja.»
«Meinst du, das war ‘ ne gute Idee?»
«Nein.»
Pause. Henning starrt auf die LCD-Anzeige. Zwei Mal verändert sich die Zahl. «Ich brauche jetzt meinen Freund und ich muss jetzt wissen, was los ist. Und außerdem war es furchtbar. Kann ich was dafür, dass ich schwul bin? Glaubst du vielleicht, mir macht das Spaß, wenn Rosi heult! Und Arnold aussieht, als würde er gerade zu seiner Beerdigung gehen. Ich hab meinen Vater noch nie heulen sehen. Außer einmal. Ich — »
Wir können uns denken, dass Henning wieder aufschluchzt. Fast lautlos.
Hinter ihm steht eine Frau mittleren Alters. Sie hat halb langes, rötliches Haar, einen einzelnen, großen, wip pen den Ohrring. Sie lächelt Henning kurz an. Offen sicht - lich ist sie irritiert. Henning hat aufgelegt. Er sieht zu Bo den, geht ins Zugrestaurant und bestellt sich ein Bier.
Der Mitropa-Typ lächelt ihn an. Henning fragt sich, ob der schwul ist. Ob der schwul ist, oder ob er auf der Hälf te der Welt steht, die gestern untergegangen ist. Die Frü herwelt, als es nur eine Sorte von Menschen gab, Leute — in zwei Ausführungen: Männchen und Weibchen. Hen ning wittert überall Feinde. Der Zug wird ihm zu eng. Er will endlich in dieser verdammten Stadt ankommen, vor der er sich zwar auch fürchtet, aber im Freien kann man notfalls weglaufen. Hier nicht, hier kann man nur beten, dass man sich nicht zu einem rechtsradikalen Zugschaff ner flüchtet. Henning hat sich für die Fahrt eine Schachtel leichter Zigaretten gekauft, dann aber im Nichtraucher ab teil einen freien Platz gefunden.
«Würden Sie mir Feuer geben?»
Aus seinen Gedanken aufgeschreckt, zuckt Henning zusammen. Die Frau von eben hat ihn angesprochen. «Ja», antwortet er und reicht ihr sein Feuerzeug über den Tisch. Sie kommt ihm einen Schritt entgegen, steht ihm nicht mehr gegenüber, sondern seitlich am Tisch. Sie gibt das Feuerzeug zurück. «Danke», sagt sie teilnahmslos. Dann sieht Henning, dass sie ihm in die Augen starrt. Sie hat gehört, dass er schwul ist. Will sie jetzt den Zug zu sam menschreien, fragt er sich. Henning hat schwarze Ge danken. Sie saugt kurz an ihrer Zigarette. «Sie müssen Ih ren Eltern Zeit lassen», sagt sie. Sie wirft einen kurzen Blick auf den freien Stuhl gegenüber von Henning. «Und Sie müssen sich selber auch Zeit lassen», sagt sie. Leise, nicht barsch, nicht freundlich. Im Wegdrehen lächelt sie kurz, geht mit bestimmten Schritten durch den Raum und verschwindet hinter einer Ecke.
Henning steigt wieder Wasser in die Augen, diesmal aus Rührung. Er muss kichern und zwei Tränchen lösen sich und rollen ihm die Wangen runter. Eins links, eins rechts. Das Rechte etwas schneller. Schmunzelnd wischt er sie ab.
Henning fühlt sich einsam und verlassen, aber es gibt noch jemanden, der viel einsamer und viel verlassener ist als er. Ganz allein ist dieses Wesen im leerem Haus übrig geblieben: Steffens Quietsche-Entchen. Ohne Kraft, sich auf richten zu können, hängt es schief über dem Abfluss der Badewanne und weint kleine Tropfen Badewasser, die in es hinein geflossen sind. Wir wollen auch diesem Wesen ein paar gute Gedanken schicken...
72
Rosi hat rasende Kopfschmerzen. Ihr drängt sich die aus Funk und Fernsehen bekannte Frage auf, womit sie das verdient hat. Es pocht an der Schläfe, es reißt an der Stirn. Sie ist sich nicht sicher, was das alles soll, was es be deutet: sie weiß nicht, was das ist. Natürlich weiß sie, was Homosexualität ist, aber dann weiß sie es auch wieder nicht. Sie ist ja nicht doof. Also weiß sie, dass es durchaus unwahrscheinlich ist, dass es sich bei den Homosexuellen um lauter alte Säcke handelt, beispielsweise. Ihr Sohn jeden falls ist ja keiner. Bei der Vision von Henning in einem dunklen Anzug, mit weißem Haar, geiferndem Blick und nassen Lippen kneift sie erschrocken die Augen zusammen.
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