Hera Lind
haben.
»Wie, um Himmels willen …« Ich brach ab. Es ging mich überhaupt nichts an.
»Unserem Orchestervorstand wurde zugetragen, ich hätte mitten im Weihnachtsgeschäft meine Dienstpflicht vernachlässigt und noch dazu Unzucht mit Minderjährigen betrieben. Völliger Schwachsinn!«
»Unzucht mit Minderjährigen? Hallo, ich bin fünfunddreißig!«
Christians Lachen hallte mir entgegen, aber es klang traurig und ratlos.
»Schön, dass wenigstens du noch Humor hast! Ich finde hier nämlich weit und breit keinen Menschen mehr mit Humor, und niemand will mich aufklären, mir sagen, was eigentlich passiert ist.«
Jetzt hatte ich schon den zweiten traurigen und ratlosen Mann an der Backe. Aber für diesen hier empfand ich unbeschreibliche Zuneigung. Und für Jürgen bestenfalls Mitleid. Und genau das war falsch! Eigentlich müsste ich für Jürgen unbeschreibliche Zuneigung empfinden. Und für Christian Mitleid. Verkehrte Welt!
»Meine Frau hat mich regelrecht vor die Tür gesetzt«, hörte ich Christian sagen, während ich versuchte, nach der Notfallapotheke in Form meines Champagnerglases zu angeln. Mein Arm tat so, als gehörte er nicht mehr zu mir. Er war taub vor Schreck. Christian redete weiter: »Sie hat die Schlösser ausgetauscht, das volle Programm. Gestern habe ich meine Sachen geholt, die hatte meine Frau mir mithilfe von Nachbarn auf die Terrasse in den Schnee gestellt.«
»Nachbarn?« Eine böse Ahnung machte sich in mir breit.
»Na ja, unsere Freunde hier. Aus irgendeinem Grund sind sie vom Paulus zum Saulus geworden. Ich weiß überhaupt nicht, was sie plötzlich gegen mich haben. Ein Anwalt war da, und ich habe sogar einen richterlichen Beschluss bekommen, dass ich mich meiner Frau und den Kindern nicht weiter als bis auf hundert Meter nähern darf.« Er räusperte sich. »Entschuldigung, dass ich dir das alles erzähle. Aber ich weiß einfach nicht, was ich von der Sache halten soll.«
Aber ich!, dachte ich und wand mich innerlich vor Scham.
»Aber dir geht es gut?«, kam es zögerlich aus dem Hörer.
Eine peinliche Stille entstand. Ich presste verzweifelt die Lippen zusammen. Noch vor wenigen Minuten hatte ich Jürgen versprochen, nach Hause zu kommen. Christian zu vergessen, hatte ich ihm schon hundertmal versprochen. Und nicht mit ihm zu telefonieren, gefühlte tausendmal.
»Hallo? Lotta?«
»Ähm ja, ich bin noch da.« Beziehungsweise das, was noch von mir übrig war: ein schlaffer, zitternder Körper im fremden Bademantel auf dem Fußboden.
»Bist du gut ins neue Jahr gekommen?«
Meine Antwort war ein unverständliches Krächzen.
»Kannst du nicht ungestört sprechen? Ich hatte eben jemand anders am Telefon?«
»Nein, passt schon. Ich bin bei einer Freundin. Und du?«
»In Wien, im Hotel Imperial.« Ich hörte, wie Christian auf und ab ging. »Aber das ist keine Dauerlösung. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie es weitergehen soll. Vorgestern war meine Tochter bei mir. Sie versteht auch nicht, was in ihre Mutter gefahren ist.« Er seufzte. »Wenn ich nur wüsste, was das alles zu bedeuten hat!«
Ich biss mir die Lippe blutig.
»Na ja, offensichtlich hat es nichts mit dir zu tun«, sagte er schließlich. »Ich wollte einfach mal wieder mit einem normalen Menschen reden, möchte dich aber in deinem Heilewelt nicht stören. Grüß deine Freundin. Und deine Kinder. Es war … schön bei dir. Ich denke noch oft an unser Konzert. Und an unser … Bier danach.«
Oh ja, ich auch!, hätte ich gern gerufen, aber meine Stimmbänder verweigerten ihren Dienst.
Er räusperte sich, als wollte er noch etwas Wichtiges sagen. »Netter Zeitungsartikel übrigens. Ich habe ihn gegoogelt.« Er zögerte und setzte dann nach: »Jetzt sitze ich im Hotel, bin meinen Job los und starre dauernd auf dein Bild.«
Ich konnte mich nicht länger beherrschen. Es ging einfach nicht. »Mein Mann hat deine Frau angerufen!«, platzte es aus mir heraus. Mein Herz raste so laut, dass ich seine Antwort nicht verstand. Vielleicht antwortete er auch gar nicht, denn was ich hörte, als sich mein Herzklopfen wieder beruhigt hatte, war ein Rauschen in der Leitung. Hatte er aufgelegt?
»Hallo?«, krächzte ich matt. Ich fühlte mich so entsetzlich schuldig – Christian gegenüber und Jürgen gegenüber. Schließlich war ich schon auf dem Sprung zu ihm zurück.
»Ähm … ja, ich bin noch dran. Ich begreife nur nicht …«
»Jürgen hat deine Frau angerufen, und die hat euren Nachbarn den Hörer gegeben. Und
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