Hera Lind
auf die nackten Füße. Der Höhepunkt seiner väterlichen Bespaßungen bestand darin, dass Jürgen bei ihnen auf der Bettkante saß und ihnen »Blaukraut bleibt Blaukraut, und Brautkleid bleibt Brautkleid« beibrachte. Ich lehnte völlig erschöpft im Türrahmen und schaute dem Treiben zu. Mechanisch faltete ich die Klamotten der Kinder zusammen, zupfte vier Söckchen aus vier Hosenbeinen und rollte sie ineinander, die rosafarbenen und die blauen. Sie passten gar nicht zusammen. Wie Jürgen und ich. Während Christian … Christian ließ sich scheiden. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Halt, nicht daran denken! Jürgen war Trumpf. Er gehörte in dieses Kinderzimmer. Er war der Vater, nicht Christian.
Paul saß in seinem Hochbett und buhlte um Aufmerksamkeit. Wieder ließ er sein grünes Badekrokodil niedersausen und zerzauste Jürgen die Haare. Der wischte es weg wie ein lästiges Insekt.
»Aber jetzt müsst ihr schön schlafen.«
»Nein! Wieso denn! Immer, wenn es schön wird!«
Tja, das war wohl nur ein kurzes Gastspiel im Kinderzimmer gewesen. Jürgen sah mich verliebt an: »Die Mama und ich haben noch etwas zu besprechen.«
Oh Gott, nicht schon wieder! Ich ahnte bereits, was auf mich zukam:
a) Versprich mir, nie wieder mit diesem Herrn zu telefonieren.
b) Ich will mit dir über den Stand unserer Beziehung reden.
c) Wenn du mich liebst, dann schläfst du jetzt mit mir.
d) Wenn du mich liebst, dann heiratest du mich jetzt.
All das hatten wir schon tausendmal durchgekaut.
Wir küssten die Kinder und deckten sie zu. Jürgen schob mich mit Siegermiene die Treppe hinunter und wies mir seinen Ledersessel zu. »Setz dich.«
»Wie jetzt? Echt?« Ich sah mich suchend um. Kein Laptop in Reichweite? Anscheinend waren die Programmierungsarbeiten abgeschlossen.
»WAS möchtest du trinken?« In seiner Stimme lag spontaner Übermut.
»Ein Glas … Wein?«
Erstaunt und völlig perplex sah ich, wie Jürgen in den Keller ging und kurz darauf mit einer Flasche Rotwein wieder herauf kam. Sie war noch in Geschenkpapier verpackt, wahrscheinlich von einem seiner Sparkassenkunden. Ich trank nie Rotwein, aber woher sollte er das wissen. Es war ein Versuch. Er bemühte sich. Und ich wollte mich verdammt noch mal auch bemühen.
Umständlich entkorkte er die Flasche und suchte dann nach Gläsern.
Als ich aufspringen wollte, drückte er mich wieder in den Sessel zurück. »Nicht! Bleib sitzen! Ich mach das schon.«
»Da!« Ich zeigte auf den Gläserschrank. »Links oben.«
Er strahlte, als er die Gläser fand, und schenkte ein.
»Auf uns!«
»Auf uns.« Wir tranken. Als Nächstes spürte ich seine feuchte Hand in meinem Gesicht.
»Du bist heute Abend besonders hübsch.«
Er lächelte harmlos. Der Anruf bei Christians Frau!, ging es mir durch den Kopf. Das verwanzte Handy in meiner Handtasche, die Sophie-Intrige, die beschmierten Plakate, das Petzen bei meiner Mutter. Die Plastiktüte im Flur. Trotz aller guten Vorsätze schaffte ich es beim besten Willen nicht, sein Lächeln zu erwidern. Unwillkürlich wandte ich mein Gesicht ab, sodass er die Hand zurückzog.
»Freust du dich denn nicht, Schnuckelmaus?«
»Es geht so.«
»Wir haben uns wieder zusammengerauft! Wir fangen jetzt ganz neu an!« Das Spielzeug funktioniert wieder! Wir haben eine neue Batterie reingetan!
»Ja.«
Wir tranken. Ich zwang mich, nicht an Christian zu denken. An den Klang seiner Stimme, als er sagte: Ich halte gerade dein Bild in den Händen. Stattdessen schaute ich Jürgen an. Na also, es ging doch! Ich schaffe das!, versuchte ich mir einzureden. Ich kann mich von ihm angezogen fühlen. Alles nur eine Frage der Selbstbeherrschung und gegebenenfalls des Blutalkohols. Rasch griff ich erneut zu meinem Glas und nahm mehrere große Schluck Rotwein. Ich lächelte Jürgen so nett wie möglich an.
Jürgen ließ sich mit einer Pobacke auf die Sessellehne gleiten und strich mir über den Nacken. Unwillkürlich zuckte ich zusammen und simulierte einen Hustenanfall. Die Schnuckelmaus war noch nicht so ganz in Stimmung. Es war, als übten wir ein Musikstück ein. Noch war der Klang disharmonisch. Doch wenn ich Jürgens falschen Fingersatz korrigierte, würde es uns vielleicht doch noch gelingen, eine große Symphonie daraus zu machen.
»Ich weiß, was ich an dir habe, Jürgen«, rang ich mir ab.
Er strahlte vor Stolz. Ich wunderte mich, wie einfach es war, Jürgen zum Schnurren zu bringen. Um meine Unsicherheit zu überspielen, zog ich ein
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