Hera Lind
Männer gingen Schulter an Schulter den Borkenkäferweg entlang, die Hände in den Hosentaschen. Christian hatte die volleren Haare und die athletischere Figur. Jürgen war größer und breiter. Wie zwei Hirsche gingen sie jetzt in den Wald, um ihre Geweihe ineinander zu verkeilen. Einer würde mit dem Kopf des anderen unterm Arm wiederkommen. Und ihn hier an die Wand hängen.
Caspar und ich starrten uns eine Weile sprachlos an. Dann begannen wir, den Tisch abzuräumen. Nur Christians angebissenes Brötchen ließen wir stehen. Ich wünschte mir sehnsüchtig, dass er wiederkam. Wenn nicht, würde ich es mir einrahmen. Anschließend starrten wir stumm aus dem Fenster. Meine Stunde ist noch nicht gekommen!, dachte ich. Ich muss warten lernen. Gleichzeitig erschrak ich über meine innere Stimme, die mich auslachte und den Tonfall meiner Mutter angenommen hatte: Da kannst du lange warten! Deine Zeit kommt nie! Du gehörst in diese Einbauküche und sonst nirgendwohin!
Mann, das dauerte! Jetzt waren sie schon über eine Stunde weg! Sie würden sich doch nicht prügeln? Ich sah schon einen von ihnen mit dem Gesicht nach unten im Billerbach treiben!
»Ich müsste jetzt zu meinem Sprachkurs«, sagte Caspar. »Aber wenn du mich brauchst, bleibe ich natürlich hier.«
»Nein, nein, geh nur.«
»Du kommst zurecht?«
»Ja. Alles bestens. Ich schaff das schon.« Ich hatte wieder neuen Mut gefasst. Schließlich war Christian extra hergekommen. Er hatte einen freien Willen. Und ich auch! Wir waren doch keine Marionetten, auch wenn Jürgen das gern gehabt hätte. »Es gibt Momente, die muss man einfach beim Schopf packen, findest du nicht? Wenn einem das Schicksal eine solche Chance gibt, wäre man doch bekloppt, sie nicht zu nutzen. Oder was meinst du?«
Ich ertappte mich dabei, dass ich diesen unschuldigen Jungen dazu bringen wollte, mir einen Freifahrtschein auszustellen. Ich wollte, dass er sagte: »Du hast alles Recht der Welt, mit diesem Mann durchzubrennen. Ich stehe voll hinter dir!« Absurd.
Caspar sah mich besorgt an: »Schick mir eine SMS, wenn du mich brauchst.«
»Klar. Kein Problem.« Meine Finger zitterten, als ich zum x-ten Mal das Küchenhandtuch glatt strich.
Caspar hatte die Türklinke schon in der Hand, als er bis über beide Ohren grinsend sagte: »Der Typ ist echt der Hammer. Wenn du ihn nicht nimmst, nehme ich ihn!«
Nach zwei Stunden, zweiundzwanzig Minuten und sechzehn Sekunden kamen sie wieder. Ich saß inzwischen in meinem Arbeitszimmer und telefonierte mit Sophie, die mich vehement ermutigte, mit Christian mitzufahren.
»Ob du dann endgültig mit ihm durchbrennst, kannst du immer noch entscheiden. Du musst ihn doch erst mal kennenlernen!«, riet sie mir. »Bisher liebst du nur ein Phantom! Jetzt ist er da, er hat Zeit, du hast Zeit, er hat ein Auto – also fahrt irgendwohin und genießt es!«
»Sophie, wie kann ich es genießen? Meine Familie steht am Rand eines Abgrunds! Wenn ich mit ihm gehe, zerbricht sie.«
»Sie zerbricht, wenn du bleibst«, sagte Sophie ungerührt. »Das muss dir doch klar sein! Jeden Tag gibt es bei euch einen mittleren Erdrutsch, so instabil ist eure Beziehung. So kann es doch nicht weitergehen!«
»Und selbst wenn ich jetzt mit ihm fahren würde«, sagte ich mit zittriger Stimme. »Wo lasse ich denn dann die Kinder?«
»Bei mir.«
»Jürgen behauptet, sie werden ihm vom Gericht zugesprochen. Er hat sich schon erkundigt!«
»Völliger Blödsinn! Er blufft. Und zwar schlecht. Fall nicht darauf rein!«
»Sophie, ich weiß überhaupt nichts mehr! Außer dass ich Christian liebe! Ist das nicht verrückt?«
»Ver-rückt«, sagte Sophie genüsslich. »Du hast die einmalige Chance, deine Weichen neu zu stellen. Nimm dir Zeit, mach dir Gedanken darüber, wo du hinwillst. Vielleicht fährt dein Zug nicht immer nur geradeaus. Das wäre doch auch unerträglich langweilig!«
Meine allerliebste Freundin wollte mir damit das schlechte Gewissen nehmen. Sie bemühte sich nach Kräften, aber das war nicht so einfach. In Gedanken griff ich nach Schaufel und Besen und bückte mich wie Frau Ehrenreich, um die hässlichen braunen und abgestorbenen Blätter aufzukehren – allerdings die der Spießermoral, die den Eingang zum Paradies verdeckten.
»Oh Sophie, dein Angebot, Caspar und die Kinder aufzunehmen ist wirklich großzügig … Das würde ja bedeuten, dass Christian und ich irgendwo ein Doppelzimmer …« Ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen und musste schlucken. Mir
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