Hera Lind
nahm sie in den Arm und zwang mich, wieder zum Alltag überzugehen. Heute begannen wieder Schule und Kindergarten. Caspar hatte den Esszimmertisch gedeckt. Immer wieder spähte ich unauffällig aus dem Fenster. Nichts. Unser Vorgarten war von Raureif bedeckt. Frau Ehrenreich machte sich an der Biomülltonne zu schaffen. Ein Auto fuhr vor, ich hörte eine Tür schlagen. Mein Herz setzte einen Schlag aus, und ich schaute zwischen den Büschen hindurch. Aber es war nur der Briefträger, der Post durch den Schlitz warf und sich wieder trollte. Ein Schneeräumfahrzeug arbeitete sich lärmend durch unsere kleine Straße. Es war alles so wie immer. In Jeans und Rollkragenpulli stand ich am Herd und machte den Kindern Kakao.
Jürgen kam die Treppe herunter. Und täglich grüßt das Murmeltier … Er hatte seinen Laptop unter dem Arm und stellte ihn wie immer neben seinen Teller auf dem Tisch. »Morgen.«
»Morgen«, sagte ich und presste den Orangensaft aus.
»Hast du gut geschlafen?«
»Wunderbar«, log ich. »Und du?«
»Das Hochbett war nicht so bequem.« Jürgen sah unauffällig aus dem Fenster. Dann schlug er die Zeitung auf. Die Kinder beachtete er nicht.
»Kaffee?«, fragte ich.
»Ja, bitte.« Die Hand mit der Tasse kam hinter der Zeitung hervor. Sie zitterte leicht.
Ich schenkte ein. Meine Hand zitterte auch.
Caspar sang südafrikanische Kinderlieder, um die angespannte Atmosphäre etwas aufzulockern: »Wilie-wilie-walie … – alles in Ordnung?«, fragte er mich schließlich.
»Ja, klar.« Verlegen fuhr ich mir durch mein abstehendes Haar. »Ich geh nur mal schnell ins Bad.« Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte ich nach oben und versuchte, mithilfe eines Glätteisens so etwas wie eine Frisur hinzukriegen. Dann schminkte ich mich und trug hastig etwas Lipgloss auf. Ich wollte gerade wieder nach unten eilen, als die Badezimmertür aufging. Jürgen stand auf der Schwelle und sah mich forschend an. Er kratzte sich am Ellbogen. »Wollen wir nicht noch mal über alles reden?«
»Es ist halb acht«, sagte ich. »Musst du nicht in die Sparkasse?«
»Äh nein, heute nicht.«
»Aber du gehst jeden Morgen um halb acht rüber in die Sparkasse! Heute ist Mittwoch, die Kunden werden warten!«
»Heute habe ich keine Termine.« Jürgen versperrte mir den Weg.
»Ich muss die Zwillinge in den Kindergarten bringen«, sagte ich nervös. »Lass mich bitte durch!«
»Die bringt schon Caspar«, sagte Jürgen.
»Der bringt doch Paulchen zur Schule!«
»Paulchen geht heute allein.«
Ich schluckte. Was sollte denn das jetzt wieder?
»Für wen hast du dich so fein gemacht?«, fragte Jürgen misstrauisch.
»Och, nur so.« Ich fuhr mir mit dem Handrücken über den Mund. Mein Spiegelbild zeigte mir eine völlig übernächtigte Frau, die sich bemühte, nicht laut loszuheulen. Unten hörte ich die Haustür ins Schloss fallen.
»Sie sind weg«, sagte Jürgen. »Jetzt reden wir mal Klartext.«
Ich sank auf den Badewannenrand. Nicht schon wieder! Bitte nicht schon wieder!
»Ich habe mich mal beim Familiengericht schlaugemacht«, sagte Jürgen und zog ein paar Blätter aus der Hosentasche. »Nur falls du noch mal auf die Idee kommen solltest, mit den Kindern abzuhauen.«
»Was ist denn das?« Leider hatte ich meine Brille nicht auf. Sie lag noch unten auf dem Esstisch.
»Ein vorläufiger Beschluss des Familiengerichts«, sagte Jürgen.
Gegen welche Windmühlenflügel kämpfte mein trauriger Ritter denn jetzt schon wieder? »Wieso warst du beim Familiengericht?«
»Wir sind ja nicht verheiratet«, sagte Jürgen, als ob ich das nicht selbst wüsste. »Und normalerweise stehen die Kinder unverheirateter Paare automatisch der Mutter zu.«
»Echt? Also darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken …«
»Natürlich nicht. Weil du damit ja immer bei diesem Herrn bist.«
Dieser Herr. Fast hätte ich mich in die Idee verstiegen, dass er gleich bei uns im Borkenkäferweg vorfahren würde. Oder noch besser, auf einem Schimmel anreiten, mich auf sein Pferd heben und mit mir davongaloppieren würde. Was man eben so denkt, wenn man am Ende seiner Kräfte ist und dem Nachwuchs Märchen vorliest. Was für ein dämlicher, naiver Kleinmädchen-Gedanke! Ich sollte zur Mutter-und-Kind-Kur fahren und mal so richtig ausschlafen. Und danach mein altes Leben wieder aufnehmen. Das Leben eines soliden Schnürschuhs. Gläserner Pantoffel, ade! Verzweifelt wischte ich mir über das Gesicht und versuchte, meine Tränen
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