Herbert, James - Die Brut.pdf
außer ihm und den beiden Totengräbern niemand mehr auf dem kleinen Friedhof neben der Kirche. Ihre Schaufeln gruben sich tief in den weichen Erdhügel neben dem offenen Grab, und das dumpfe Poltern, mit dem die Erdklumpen auf den Sarg prallten, jagte einen Schauer durch den dünnen Körper des Geistlichen. Das Geräusch hatte etwas Endgültiges, es verkündete das Ende des Lebens im Diesseits, und wenn er auch seinen Schäfchen immer vom glorreichen Leben im Jenseits predigte, das sie nach ihrem Ableben erwartete, so fürchtete er den Tod doch sehr.
Die Zweifel hatten ihn sehr spät heimgesucht. Bis dahin waren sein Glaube und seine Liebe zu den Menschen in all den bitteren Zeiten unerschütterlich gewesen. Doch seit sich sein Leben unaufhaltsam dem unausweichlichen Ende zuneigte, ganz gleich, ob es noch fünf oder fünfzehn Jahre auf sich warten ließ, begann er sich darüber Gedanken zu machen. Zuvor hatte er geglaubt, er verstünde oder akzeptierte zumindest die Tatsache, dass die Welt von Grausamkeit beherrscht wurde, doch nach und nach war mit dem Verfall seines Körpers auch der Glaube zerbrechlich geworden. Man behauptete, die Menschheit hätte einen neuen Höchststand der Zivilisation erreicht, und trotzdem wurden die Scheußlichkeiten nicht weniger und erschienen ihm tückischer als je zuvor. Seine ketzerischen Gedanken hatten überhandgenommen und seinen Glauben untergraben. Seitdem fühlte er sich überaus verletzlich, preisgegeben.
Seine Schäfchen grämten sich und plagten ihn fortwährend mit der Frage, wie ein gütiger Gott all dieses Leid zulassen konnte. Darauf vermochte er immer nur zu antworten, dass niemand die Wege des Herrn begriff, er sich aber trotzdem seiner Kinder annahm. Eine Antwort, die sie kaum tröstete - und ihn selbst inzwischen ebenso wenig.
Die Seelen solcher Menschen wie der alten Mrs. Wilkinson oder auch seiner verstorbenen Frau Dorothy würden das Heil erblicken, denn sie standen stellvertretend für das Gute in der Welt, das es immer noch gab. Doch das dumpfe Kollern von Erde auf Holz schmälerte jetzt irgendwie diese Idealvorstellung und gab dem Tod eine starke Realität.
Was, wenn ihr Gott nicht so war, wie ihn sich die Christen vorstellten?
Der Reverend strich sich über die Stirn. Er schwankte leicht.
Seine Schäfchen durften niemals etwas von seinen Zweifeln erfahren - sie brauchten seine starke Führung.
Seine Zweifel waren sein Geheimnis, und er würde sie im Gebet überwinden. Die Jahre forderten ihren Zoll, das war alles. Er würde seine alte Glaubensstärke wiedererlangen und die sündigen Gedanken bezwingen. Es musste nur sehr bald geschehen - vor seinem Tod.
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Die zwei Totengräber keuchten laut, doch hatten sie ihre schwere Arbeit fast beendet. Der Priester wandte sich ab, mochte den flachen Erdhügel - das Siegel des Todes -
nicht mehr sehen. Er ließ seinen Blick über den stillen, sonnigen Friedhof schweifen. Das leise Rauschen des Windes in den Bäumen war beruhigender und angenehmer als das Kratzen des Erdreichs an den Schaufelblättern. Er spürte die tiefe Traurigkeit in seinem Innern und fragte sich, ob ihm der Wald deshalb so bedrohlich vorkam.
Der Pfarrer fühlte sich beobachtet. Oder war er nur geistig erschöpft? Glaubte er deshalb, Dutzende von Augen-paaren aus dem Schatten der Bäume auf sich gerichtet, die mit ihren Blicken seine Fassade durchdrangen und tief in seine Schuld schauten? Er schüttelte benommen den Kopf. Wenn dieses schreckliche Gefühl ihn nicht vernichten sollte, musste er dagegen ankämpfen.
In letzter Zeit hatte sich auch die Stimmung im Wald geändert. Keines seiner Schäfchen sprach darüber, und doch war ihm der seltsame Ausdruck in den Augen der Waldbewohner aufgefallen, die argwöhnischen Blicke, mit denen sie das Unterholz betrachteten.
Der Reverend starrte in die dichtbelaubten Büsche, versuchte die Schattenzonen zu durchdringen. Hatte sich da etwas bewegt? Nein, nur ein Grashalm schwankte im Wind. Er musste sich unbedingt von dieser selbstzerstörerischen Stimmung befreien und seine Selbstkontrolle zu-rückgewinnen. Epping Forest und seine Bewohner waren sein Lebensinhalt. Er liebte den Wald. Warum wirkte er dann so bedrohlich?
Brian Mollison war ein breitschultriger, vierzigjähriger Mann mit kräftigen Schenkeln. Er hasste seine Mutter und 41
verabscheute die Kinder, die er unterrichtete. Vielleicht wäre er seines Problems Herr geworden, wenn er geheiratet hätte - wäre seine Mutter damit einverstanden
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