Herbst - Ausklang (German Edition)
rein, mein Bester«, sagte Sue Preston zu ihm, als sie mit einem Tablett voll Essen und Getränken aus der angrenzenden Kantine hereinkam. »Wir halten hier nichts von Förmlichkeiten.«
Driver folgte der Aufforderung, blieb jedoch erneut stehen, als er sein Spiegelbild in einem Fenster erblickte. Er musste zweimal hinsehen, um sich zu vergewissern, dass es sich tatsächlich um ihn handelte. Er hatte beinah vergessen, wie er aussah. Seit seiner Ankunft in der Burg hatte er zum ersten Mal seit Wochen eine Rasur erhalten, und eine der anderen – eine Frau namens Shirley – hatte sein langes Haar mit einer Schere bearbeitet. Wie beinah jeden Tag, seit alles begonnen hatte, trug er immer noch die Jacke seiner Busfahreruniform, teils, weil sie ihn wärmte, vorwiegend jedoch, weil er nichts anderes hatte.
Jackson saß mit einem anderen Mann vor einem Petroleumkocher, der einen behaglichen orangefarbenen Schimmer verbreitete. Selbst auf die Entfernung konnte Driver die Wärme spüren, die davon ausging. So wohlig hatte er sich seit Wochen nicht mehr gefühlt. Jackson drehte sich um, bedeutete ihm, näherzukommen, und zog einen zweiten Stuhl heran. Driver setzte sich. Immer noch empfand er ein unerwartetes Unbehagen.
»Das ist Kieran«, stellte Jackson den Mann vor, der zu Drivers Rechten saß. »Kieran, das ist Tony.«
»Mir ist Driver lieber.«
»Wie geht’s?«, fragte Kieran, als sie sich die Hände schüttelten.
»Ging schon besser, aber auch schlechter«, antwortete Driver unverbindlich.
»Was zu rauchen?«, bot Jackson ihm an.
»Nein danke. Schlecht für die Gesundheit.«
»Kaffee?«, erkundigte sich Sue und beugte sich mit dem Tablett zwischen sie.
»Dazu sag ich nicht nein«, erwiderte Driver rasch, ergriff eine Tasse und genoss die Wärme und den bitteren Geschmack. Er nippte daran und starrte auf den schimmernden Kocher, versuchte, gedanklich nachzuvollziehen, wie er aus dem albtraumhaften Leben von gestern hierher gelangt war.
»Stimmt etwas nicht?«
Driver schüttelte den Kopf und sah Jackson an.
»Es fühlt sich einfach nicht richtig an, das ist alles.«
»Was fühlt sich nicht richtig an?«
»An einem solchen Ort mit Leuten wie euch zu sitzen und vor einem Feuer ein Getränk zu genießen, als wäre nichts geschehen.«
»Wenn du lieber irgendwo anders wärst ...«
»Nein«, sagte Driver rasch. »Natürlich nicht.«
Er trank weiter von seinem Kaffee, versteckte sich geradezu hinter der Tasse und dachte an die Menschen, die er im Hotel zurückgelassen hatte. Unwillkürlich fragte er sich, in welcher Verfassung sie gerade sein mochten. Vorausgesetzt, sie lebten noch.
»Es dauert ein paar Tage, bis man sich daran gewöhnt, hier zu sein«, erklärte Jackson. »Ist wie ein Kulturschock. Liegt wohl daran, dass die Burg sicherer als die meisten anderen Orte ist.«
»Das hab ich schon mal über einen anderen Ort gehört.«
»Nein, ernsthaft, es ist so. Abgesehen von den Wenigen, die es die Straße herauf schaffen, können die Toten nicht hier hoch. Der einzige Nachteil daran, in einem so guten Unterschlupf zu sein, ist, dass man viel Zeit zum Nachdenken hat.«
»Davon kann ich ein Lied singen«, meinte Driver leise. »Hab ich selbst unlängst viel zu viel getan.«
»Möchtest du uns irgendetwas mitteilen?«
Driver schwieg eine Weile, bevor er antwortete.
»Um diese Zeit gestern«, begann er schließlich und kam sich vor, als lege er ein Geständnis ab, »habe ich in dem Bus draußen gesessen, gefroren und mich gefragt, ob es überhaupt noch Sinn hat, weiterzumachen. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte. Die Nacht davor hatte ich in einem Café verbracht, und die davor in einem Laster. Davor wiederum war ich in einem Hotel ...«
»Worauf willst du damit hinaus?«
»Man gewöhnt sich daran, wegzurennen. Man vergisst, wie man stillhält.«
»Na ja, vielleicht ist es für uns alle an der Zeit, wieder zu lernen, wie man stillhält«, meinte Jackson und legte Driver beruhigend eine Hand auf die Schulter.
»Seit alles angefangen hat, sind knapp zwei Monate verstrichen«, stellte Kieran in etwas barscherem Tonfall als Jackson fest, beinah aggressiv. »Du hast uns von den vergangenen Tagen erzählt. Wo bist du davor gewesen?«
»Die meiste Zeit hab ich in einem Wohnkomplex verbracht.«
»Und warum bist du dort weg?«
»Aus demselben Grund, aus dem jeder in diesen Zeiten irgendwo abhaut. Weil mehrere Tausend Tote vor der Tür uns einfach nicht in Ruhe lassen
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