Herbst - Beginn
vermeinte er, sie immer noch kaum zu kennen, tatsächlich jedoch hatte er in den neunundzwanzig Jahren seines bisherigen Lebens mit keinem anderen Menschen so viel Schmerz, Verzweiflung und Emotionen geteilt.
Er lenkte den Landrover um eine scharfe Kurve – und trat jäh auf die Bremse, um einem Milchwagen auszuweichen, der gegen eine niedrige Steinmauer geprallt war und dessen Heck auf die Fahrbahn ragte. Um Haaresbreite schlitterte er daran vorbei. Erschrocken ob des Beinahunfalls konzentrierte er sich darauf, wohlbehalten zur Penn Farm zurückzukehren. Ein weiterer flüchtiger Blick in den Rückspiegel bestätigte, dass Emma ihm nach wie vor dicht folgte.
Allmählich wurde die bislang stark gewundene Straße gerader. In der näheren Entfernung sah er drei graue, aneinander grenzende Häuser. Plötzlich löste sich aus einem der Gebäude eine Gestalt und stolperte mitten auf die Straße, wo sie ihm zugewandt stehen blieb.
»Verdammte Scheiße«, stieß Michael hervor, während er auf die Gestalt vor sich starrte. »Sieh sich bloß einer dieses dämliche Ding an.«
Er trat aufs Gaspedal, und der Landrover beschleunigte jäh. Dabei bündelte Michael all seine aufgestaute Wut, seine Ängste und seine Frustration auf jene eine, Mitleid erregende Gestalt. Ein paar Sekunden lang überkam ihn das Gefühl, sie zu zerstören, könnte irgendwie den Verlust all dessen wettmachen, was er verloren hatte.
Als Michael losraste, vergrößerte sich der Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen. Besorgt und verwirrt beschleunigte auch Emma, um nicht den Anschluss zu verlieren.
Die Gestalt auf der Straße hob die Arme über den Kopf und schwenkte sie, um Michael zu bedeuten, er solle bremsen.
»Großer Gott«, murmelte er. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihm die wahre Bedeutung der Geste ins Bewusstsein sickerte; und mittlerweile war er fast bei der Gestalt angekommen. Sie bewegte sich deutlich koordinierter und planvoller als jede der wandelnden Leichen, die er bisher gesehen hatte. Instinktiv stieg er heftig auf die Bremse und brachte den Landrover schlitternd zum Stehen.
»Gott sei Dank«, keuchte der kleinwüchsige Mann, als er sich Michael näherte. Er schaute auf, als Emma unmittelbar hinter dem Landrover anhielt. »Gott sei Dank«, wiederholte er. »Ihr beide seid die ersten Menschen, die ich seit Wochen sehe.«
»Geht es Ihnen gut?«, erkundigte Emma sich. Sie war ausgestiegen und ging auf den Mann zu.
»Mir fehlt nichts«, antwortete er rasch und überschlug sich dabei fast wie ein nervöses Kind. »Allerdings geht es mir jetzt, da ich euch sehe, noch besser. Ich dachte schon, ich sei der Einzige, der noch übrig ist. Ich wollte gerade –«
»Wie heißen Sie?«, unterbrach ihn Michael.
»Philip. Philip Evans«, antwortete der Mann.
»Und wo leben Sie?«
Der kleinwüchsige Bursche deutete auf sein Haus.
»Hier«, erwiderte er schlicht.
»Dann gehen wir besser rein«, schlug Michael vor. »Ich halte es für keine gute Idee, so ungeschützt hier draußen zu stehen.«
Gehorsam drehte Philip sich um und führte die beiden zu seinem Haus. Emma betrachtete ihn, während sie ihm hineinfolgten. Eine deutlich gebückte Haltung ließ ihn wesentlich kleiner wirken, als er eigentlich war. Seine dreckigen Kleider waren rissig und offenbar seit mehreren Tagen nicht gewaschen oder gewechselt worden. Sein erschöpftes Gesicht war gerötet, pockennarbig und unrasiert, das Haar fettig, verfilzt und ungekämmt. Und er kratzte sich unablässig.
Sie traten durch die niedrige Eingangstür und mussten feststellen, dass sich das Innere des Hauses genauso verwahrlost präsentierte wie dessen Besitzer. Die dunkle, stickige und feuchte Umgebung bildete einen idealen Nährboden für unzählige Keime und Krankheiten. Am liebsten hätte Michael sofort umgedreht, um zu verschwinden, doch das konnte er nicht. Ganz gleich, wie seine ersten Eindrücke von Philip Evans aussahen – Michael fühlte sich verpflichtet zu versuchen, etwas für ihn zu tun. Immerhin war er ein Überlebender, der erste Überlebende, dem sie begegneten, seit sie die Stadt verlassen hatten.
»Setzt euch«, sagte Philip, nachdem er die Tür hinter ihnen geschlossen und sie ins Wohnzimmer gescheucht hatte. »Bitte setzt euch und macht es euch gemütlich.«
Emma spähte auf das Sofa neben ihr hinab und beschloss, lieber stehen zu bleiben. Es war übersät mit zerknüllten Lebensmittelverpackungen, Krümeln und anderem, weniger einfach erkennbarem Müll.
»Kann ich
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