Herbst - Beginn
dann nickte er.
»Ihr habt Recht«, befand er schließlich. »Wahrscheinlich ist es am besten, wenn wir alle zusammenbleiben. Ich gehe und sage Mama Bescheid.«
Damit drehte er sich um und ging auf eine Tür in der Ecke des Zimmers zu. Dahinter kam eine schmale, gewundene Treppe zum Vorschein, die er erklomm. Emma wollte ihm instinktiv folgen, aber Michael hielt sie zurück.
»Was ist?«, fragte sie.
»Lass mich als Erster gehen.«
Philip hatte den Kopf der Treppe bereits erreicht. Als er sah, dass Michael sich näherte, hob er einen Finger an die aufgesprungenen Lippen.
»Bitte seid leise«, flüsterte er. »Mama kommt mit all dem nicht so gut zurecht, und ich will ihr keinen Schrecken einjagen. Sie ist sehr alt, und es geht ihr schon seit Monaten nicht gut.«
Michael nickte und rang sich ein halbherziges Lächeln ab, obwohl es im oberen Stockwerk stank und er in der Nähe deutlich das Unheil verkündende Summen von krankheitsverbreitenden Fliegen hörte.
Philip schob eine Tür ein Stück auf und steckte den Kopf in das Zimmer seiner Mutter. Dann drehte er sich seinen beiden Gästen zu.
»Lasst mich kurz mit ihr reden, ja?«, meinte er.
Er verschwand ins Zimmer und warf die Tür hinter sich zu, doch Michael folgte ihm dicht und huschte rechtzeitig hindurch. Philip bemerkte ihn nicht.
»Mama«, sagte er leise und kauerte sich neben das Bett. »Mama, es sind Leute da, die uns helfen können. Wir gehen für ein paar Tage mit ihnen, bis die Lage sich beruhigt hat.«
Michael blieb ein Stück hinter Philip stehen. Emma betrat vorsichtig das Zimmer und ging zu ihm hinüber. Michael ergriff ihren Arm und raunte ihr mit ängstlicher, angespannter Stimme zu, sie solle sofort zurück ins Erdgeschoss verschwinden.
»Warum?«, flüsterte sie. Gleichzeitig trat sie einen Schritt vor, um Philips Mutter besser zu erkennen; jäh riss sie vor Grauen und Ekel die Hand an den Mund. Mrs. Evans Haut war grässlich verfärbt, das Haar strähnig und fettig. Fliegen schwärmten summend um ihr verwesendes Fleisch und labten sich an ihrem unablässig zuckenden Körper. Michael ging ans Bett und zog die besudelten Laken zurück, die den Leib der alten Frau bedeckten. Ohne auf Philips Einwände zu achten, starrte er auf den ausgemergelten Leichnam hinab. Die Frau war mit dicken, straff über das fleckige Nachthemd gespannten Seilen festgebunden. Offenbar war sie bereits am ersten Tag der Katastrophe gestorben.
»Ich musste sie festbinden«, stammelte Philips nervös. »Sie wollte nicht im Bett bleiben. Und als der Doktor sie zuletzt besucht hat, sagte er, sie müsste liegen bleiben, bis es ihr besser geht.«
»Philip«, seufzte Michael, »Ihre Mutter ist tot.«
»So ein Blödsinn«, höhnte der kleinwüchsige Mann und lachte ungläubig. »Wie kann sie tot sein? Es geht ihr nicht gut, das ist alles. Verdammt noch mal, wie kann sie tot sein, du dummes Arschloch?«
»Dasselbe ist mit Millionen von Menschen passiert, Philip«, meldete Emma sich zu Wort, die Mühe hatte, ihre Nerven und ihren Magen unter Kontrolle zu halten. »Ich weiß, es hört sich verrückt an, aber die meisten der Leute, die gestorben sind –«
»Tote bewegen sich nicht«, brüllte Philip und stützte die Hände auf die Schultern seiner Mutter. »Wie kann sie tot sein, wenn sie sich bewegt? Erklärt mir das!«
»Lebendige Menschen verwesen nicht«, entgegnete Michael. »Sie haben die Wahl: Entweder Sie kommen mit uns und lassen sie hier, oder sie bleiben beide.«
»Ohne Mama kann ich nicht gehen«, heulte Philip auf. »Ich kann sie ja wohl nicht gut alleine zurücklassen, oder?«
Michael ergriff Emmas Arm und schob sie behutsam in Richtung der Treppe.
»Warte an der Eingangstür auf mich«, murmelte er. »Ich komme in ein paar Sekunden nach.«
Damit drehte er sich um und versuchte, vernünftig mit Philip zu reden. »Philip, Sie müssen sich damit abfinden«, begann er. »Ihre Mutter ist tot. Sie mag sich noch bewegen, trotzdem ist sie tot. Genau wie all die anderen Leute, die Sie draußen gesehen haben.«
Angespannt hörte Emma zu, während sie die Treppe hinabstieg. Unten angekommen wartete sie auf Michael.
»Was wollen Sie tun, wenn Sie hier bleiben?«, fuhr er fort. »Wahrscheinlich haben Sie nicht mehr viele Lebensmittel, außerdem ist Ihre Gesundheit angegriffen. Wir sind Ihre beste Chance, Philip. Packen Sie Ihre Sachen zusammen und kommen Sie mit.«
»Nicht ohne Mama. Ich kann Sie nicht verlassen.«
Niedergeschlagen schüttelte Michael den
Weitere Kostenlose Bücher