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Herbst - Beginn

Herbst - Beginn

Titel: Herbst - Beginn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Moody
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gewohnt hatte. Annie hingegen hatte ihm am Vortag erzählt, dass sie ihr ganzes Leben im selben viktorianischen Reihenhaus mit zwei Zimmern verbracht hatte. Sie war dort geboren worden und beabsichtigte, wie sie sofort hinzugefügt hatte, auch den Rest ihrer Tage dort zu verleben. Sobald die Dinge sich beruhigten, hatte sie naiv erklärt, würde sie schnurstracks nach Hause zurückkehren. Sie hatte sogar Jessica für einen Nachmittag zum Tee eingeladen.
    Michael tätschelte die Hand der alten Dame, dann stand er auf und entfernte sich. Dabei schaute er über die Schulter zurück und beobachtete, wie die beiden Rentnerinnen sich enger aneinanderdrängten und in furchtsamen Flüstertönen miteinander tuschelten. Da sie eindeutig von gegenüberliegenden Enden des gesellschaftlichen Spektrums stammten, war der einzige Grund, warum sie sich zueinander hingezogen fühlten, ihr ähnliches Alter. Geld, Rang und Namen, Besitztümer, Freunde und Verbindungen zählten nichts mehr.
    Zwei Stunden später saß Emma immer noch auf dem Boden. Als es bald halb drei wurde, verfluchte sie sich für ihre verdammte Selbstlosigkeit. Da kauerte sie, kalt und unbehaglich, und hielt immer noch Jenny Hall in den Armen. Erschwerend kam hinzu, dass Jenny seit fast einer Stunde schlief. Warum bin immer ich es, die so etwas macht? fragte sie sich. Mich hält nie jemand fest und wiegt mich in den Schlaf. Warum opfere immer ich mich? Eigentlich brauchte Emma keine Hilfe, aber es ärgerte sie, dass ihr niemand welche anbot.
    Abgesehen von einer gedämpften Unterhaltung, die aus einem der dunklen Räume abseits des Hauptsaals drang, herrschte Stille im Gebäude. Emma schob sich behutsam unter Jenny hervor, legte sie auf den Boden und deckte sie mit einem Laken zu. In der schweren Stille schien jedes noch so geringe Geräusch regelrecht Ohren betäubend. Nachdem sie Jenny versorgt hatte, lauschte sie aufmerksam und versuchte, die genaue Quelle der Unterhaltung ausfindig zu machen. Sie sehnte sich nach etwas ruhiger, vernünftiger Gesellschaft.
    Die Stimmen drangen aus einem Raum, den sie zuvor noch nie betreten hatte. Vorsichtig schob sie die Tür auf und spähte hinein. Pechschwarze Finsternis herrschte, und die Stimmen verstummten schlagartig.
    »Wer ist da?«, fragte ein Mann.
    »Emma«, flüsterte sie. »Emma Mitchell.«
    Als ihre Augen sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte sie, dass zwei Männer mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Wand kauerten. Es waren Michael und Carl. Sie tranken Wasser aus einer Plastikflasche, die sie untereinander hin und herreichten.
    »Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Michael.
    »Mir geht‘s gut«, gab Emma zurück. »Habt ihr was dagegen, wenn ich reinkomme?«
    »Überhaupt nicht«, antwortete Carl. »Hat sich draußen wieder alles beruhigt?«
    Emma betrat den Raum, stolperte beinah über ausgestreckte Beine und tastete in der Düsternis nach der nächsten Wand. Vorsichtig setzte sie sich.
    »Alles still«, bestätigte sie. »Trotzdem musste ich da einfach weg, falls ihr wisst, was ich meine.«
    »Was glaubst du, warum wir hier drin sind?«, fragte Michael.
    Nach kurzem Schweigen meldete sich wieder Emma zu Wort.
    »Es tut mir Leid«, entschuldigte sie sich. »Habe ich euch bei etwas gestört? Wollt ihr, dass ich wieder gehe, damit ihr ...«
    »Bleib, solang du willst«, unterbrach Michael sie. Emmas Augen gewöhnten sich immer besser an die Dunkelheit, sodass sie mittlerweile Einzelheiten der beiden Gesichter ausmachen konnte.
    »Ich glaube, da draußen schlafen alle. Zumindest sind alle mucksmäuschenstill. Ich denke mal, wer nicht schläft, grübelt über das nach, was heute geschehen ist. Ich habe bei Jenny gesessen und ihr zugehört, wie sie über ...« Emma wurde klar, dass sie vor sich hinschwafelte und ließ den Satz unvollendet. Michael und Carl starrten sie an. »Was ist denn?«, fragte sie und fühlte sich plötzlich verunsichert. »Was?«
    Michael schüttelte den Kopf. »Mann«, seufzte er. »Warst du die ganze Zeit da draußen bei Jenny?«
    Emma nickte. »Ja, warum?«
    Er zuckte mit den Schultern. »Ich frage mich bloß, warum du dir das antust.«
    »Na ja, irgendjemand musste es ja tun, oder?«, gab sie gleichgültig zurück, als sie zu einem Schluck aus der Wasserflasche ansetzte, die Carl ihr reichte.
    »Und warum ausgerechnet du? Herrgott, wer würde denn stundenlang bei dir hocken, wenn du ...«
    »Wie ich schon sagte«, fiel sie ihm ins Wort, »irgendjemand musste es tun.

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