Herbst - Beginn
Hände hinter dem Kopf.
»Ich müsste mich so richtig besaufen. Ich möchte so viel Bier in mich reinschütten, dass ich nicht mehr weiß, wie ich heiße, und mir alles egal ist.«
»Da drüben ist ein Schnapsladen«, sagte Carl halb lächelnd und deutete über die Hauptstraße. »Lust auf einen Spaziergang?«
Er schaute zu Michael hinab, der entschieden den Kopf schüttelte.
»Nein«, gab er sofort zurück.
Eine weitere längere Stille folgte.
»Mein Gott, sieh dir den mal an«, forderte Carl ihn einige Minuten später auf. Michael setzte sich auf.
»Wen?«, fragte er.
»Den da drüben«, erwiderte Carl und nickte in Richtung einer einsamen Gestalt in der Ferne, die am Rand der Hauptstraße entlangtorkelte. Die schattige, leere Hülle war einst ein etwa eins achtzig großer und vermutlich zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alter Mann gewesen. Er stolperte linkisch mit einem Fuß auf dem Bürgersteig vor sich hin und zog den anderen im Rinnstein hinter sich her.
»Was ist mit ihm?«
Carl zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß nicht«, seufzte er. »Sieh dir nur an, in welchem Zustand er ist. Genauso gut könnten das du oder ich sein.«
»Ja, sind wir aber nicht«, gab Michael gähnend zurück und wollte sich wieder hinlegen.
»Und da ist noch einer. Siehst du den im Zeitschriftenladen?«
Michael spähte in die Ferne.
»Wo?«
»In dem Zeitschriftenladen mit dem roten Schild. Zwischen dem Pub und der Autowerkstatt ...«
»Oh, ja, jetzt sehe ich ihn.«
Die beiden Männer starrten auf den Leichnam in dem Gebäude. Er war im Eingangsbereich gefangen. Hinter ihm war ein Regal umgekippt und versperrte ihm den Weg rückwärts, und ein verunfalltes Auto verhinderte, dass die Tür sich nach außen öffnen ließ. Die Gestalt bewegte sich unablässig, bald nach vorne, dann wieder nach hinten.
»Dieses Ding hat keinen Schimmer, was los ist, oder?«, murmelte Carl. »Komisch, dass es nicht aufgibt, was?«
»Es bewegt sich der Bewegung halber. Es weiß nicht, wie oder warum oder was es tun soll. Es verspürt einfach den Drang, sich zu bewegen.«
»Und wie lange werden sie sich bewegen? Verdammte Scheiße, wann werden sie damit aufhören?«
»Gar nicht. Es gibt keinen Grund dafür, oder? Sie nehmen nichts mehr wahr. Pass auf.«
Michael erhob sich und ging zu dem Bereich, in dem das Schrägdach an das Flachdach grenzte, auf dem sie sich befanden. Er zog einen Ziegel heraus.
»Was um alles in der Welt tust du da?«, fragte Carl grinsend.
»Sieh zu«, forderte Michael ihn leise auf.
Er wartete ein paar Sekunden, bis einer der wandelnden Leichname sich dem Gebäude näherte. Michael zielte sorgfältig und schleuderte den Ziegel. Überraschend genau traf der Ziegel die Gestalt in den Rücken. Der Leichnam taumelte und stolperte kurzzeitig, lief aber unbeirrt weiter.
»Warum hast du das gemacht?«, fragte Carl verwirrt.
Michael zuckte mit den Schultern.
»Ich denke, ich wollte nur etwas beweisen.«
»Was?«
»Dass sie nicht reagieren. Sie leben nicht wie du oder ich, sie existieren nur noch.«
Verzweifelt und ungläubig schüttelte Carl den Kopf. Michael entfernte sich wieder. Auf seltsame Weise bedauerte er, den Ziegel auf den Leichnam geworfen zu haben. Ganz gleich, was die Kreatur nun darstellen mochte, vor wenigen Tagen war sie noch ein lebender, atmender Mensch gewesen. Er fühlte sich wie ein Straßenräuber, der einem unschuldigen Opfer aufgelauert hatte.
»Glaubst du, es war ein Virus?«, fragte Carl. »Emma scheint etwas in die Richtung zu vermuten. Oder denkst du, es war ...«
»Keine Ahnung, und es ist mir auch egal«, fiel Michael ihm ins Wort.
»Was soll das heißen, es ist dir egal?«
»Was macht es für einen Unterschied? Was geschehen ist, ist geschehen. Dasselbe alte Klischee, nicht wahr? Wenn man von einem Auto überfahren wird, spielt es dann eine Rolle, welche Farbe es hatte?«
»Worauf willst du hinaus?«
»Ich will darauf hinaus, dass es belanglos ist, was das alles verursacht hat. Gut, es spielt vielleicht insofern eine Rolle, als ich nicht will, dass es auch mir widerfährt, aber was passiert ist, lässt sich nicht rückgängig machen, oder?«
»Ich schätze nicht.«
»Sieh mal, ich habe so wie der Rest von uns Freunde und Familie verloren. Ich mag mich wie ein gleichgültiger Mistkerl anhören, aber das bin ich nicht. Ich sehe bloß keinen Sinn darin, Zeit damit zu vergeuden, mir blödsinnige Theorien und Erklärungen auszudenken, die allesamt nicht das Geringste
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