Herbst - Beginn
Wenn wir uns alle in Zimmern wie diesem abkapseln, wenn die Dinge mal nicht so prächtig laufen, dann sieht unsere Zukunft hier wohl nicht besonders rosig aus, oder?«
Obwohl sie sich noch vor wenigen Minuten selbst aus demselben Grund kritisiert hatte, verteidigte Emma ihr Vorgehen unwillkürlich.
»Also denkst du, wir haben hier eine Zukunft?«, fragte Carl.
Emma fühlte sich allmählich unbehaglich. Sie war nicht hergekommen, um sich von unangenehmen Fragen bedrängen zu lassen.
»Natürlich haben wir eine Zukunft«, gab sie unwirsch zurück.
»Auf den Straßen rings um uns liegen unzählige Leichen, und wir gehen einander an die Gurgel, weil jemand keine Suppe mag. Das scheint mir nicht allzu viel versprechend, oder?«, gab Michael zu bedenken.
Stille kehrte ein.
»Was denkst du?«, wollte Emma wissen. »Du scheinst über alles eine Meinung zu haben. Glaubst du, wir haben eine Chance? Oder sollten wir uns einfach jeder in einem Winkel zusammenrollen und aufgeben?«
»Ich glaube, wir haben eine verdammt gute Chance, aber nicht unbedingt hier.«
»Wo dann?«, fragte sie.
»Lass uns mal sehen, was wir hier haben«, begann Michael. »Wir haben eine Art Unterstand, begrenzte Vorräte und Zugang zu dem, was von der Stadt noch übrig ist. Außerdem sind wir von schier unendlich vielen Leichen umgeben, die verwesen werden – und von denen sich etliche bewegen. Richtig?«
Die beiden anderen überlegten kurz, dann nickten sie.
»Ich denke«, fuhr er fort, »dass die Medaille eine Kehrseite hat. Unser Unterschlupf kann sich rasch in ein Gefängnis verwandeln. Wir haben doch in Wahrheit keine Ahnung, was rings um uns ist. Wir wissen nicht einmal, was sich in den Gebäuden auf der anderen Straßenseite befindet.«
»Aber es wird überall dasselbe sein, egal, wohin wir gehen ...«, warf Emma ein.
»Möglich. Carl und ich haben uns früher darüber unterhalten, uns aufs Land durchzuschlagen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto sinnvoller erscheint es mir.«
»Warum?«
Carl erklärte es ihr anhand der Erinnerung an das Gespräch, das er vor ein paar Stunden mit Michael geführt hatte.
»Die Bevölkerung konzentriert sich in den Städten, oder? Draußen auf dem Land wird es daher weniger Leichen geben. Und weniger Leichen bedeuten weniger Probleme ...«
»Hoffentlich«, fügte Michael vorsichtig hinzu.
»Was hält uns dann auf?«, wollte Emma wissen.
»Nichts«, erwiderte Michael
»Bist du sicher, dass du das durchziehen willst?«
»Ganz sicher.«
»Und wenn niemand mitkommen will?«
»Pech gehabt. Dann gehe ich allein.«
»Und wann willst du aufbrechen?«
»Sobald ich kann. Schon morgen, wenn ich könnte.«
So arrogant und überheblich Michael sich anhörte, Emma musste zugeben, dass seine Gedanken sinnvoll erschienen. Je eingehender sie über seinen Vorschlag nachdachte, desto hoffnungsvoller wurde sie. Von einer neuen Begeisterung und Zielstrebigkeit erfüllt, redeten die drei die langen ersten Stunden des anbrechenden Tages hindurch. Gegen vier Uhr morgens hatten sie ihren Plan gefasst.
12
Michael Collins
Bastarde.
Rückgratlose, beschissene Bastarde.
Nachdem ich beschlossen hatte aufzubrechen, war der Fall für mich erledigt: Ich würde gehen. Es ergab so viel Sinn. Niemand konnte sicher sein, was als Nächstes geschehen würde, und niemand wusste, wie sicher wir sein würden. Das Problem war nur: Alle schienen darin einig, dass wir weiterziehen sollten ... bis es tatsächlich an der Zeit dafür war. Bis es soweit war, zur Tür hinauszugehen, stimmten mir alle zu, dass es vernünftig wäre, die Stadt zu verlassen. Aber als es Zeit zu handeln war, hatte keiner den Mumm dafür. Sie hatten zwar Angst davor, im Gemeindezentrum herumzusitzen und darauf zu warten, dass etwas geschah, noch mehr jedoch fürchteten sie den Gedanken an die ersten zaghaften Schritte außerhalb ihrer Ruhezone. Ich stand mitten im Saal vor ihnen und erklärte ihnen, weshalb wir verschwinden sollten. Wie verdammte Schafe nickten sie und murmelten zustimmend. Fünf Minuten später allerdings, als Paul Garner und Stuart aufstanden, um ihre Meinung zu verkünden, und den anderen mitteilten, warum sie es für besser hielten, bis in die beschissene Ewigkeit untätig stillzusitzen, wurde die Sache abgehakt. Plötzlich fühlte es sich an, als hieße es Carl, Emma und ich gegen den Rest. Allmählich identifizierte ich mich mit den Leichen draußen mehr als mit den geist- und leblosen Bastarden, mit denen ich eingesperrt
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