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Herbst - Beginn

Herbst - Beginn

Titel: Herbst - Beginn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Moody
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Stunden hatte sie aufgeschaut und den Blickkontakt zu anderen gesucht, die dabei jedoch stets rasch die Augen abgewandt hatten. Emma wusste, dass man über sie sprach, weil nichts mehr geheim blieb. Die gespenstische Stille im Saal verstärkte jedes höhnische Wort.
    »Alles in Ordnung?«, fragte sie Michael, als er den Van vor dem Gebäude parkte, ausstieg und sich streckte.
    »Alles bestens«, gab er leise zurück, sandte ihr einen flüchtigen Blick zu und lächelte dabei ermutigend. »Bei dir auch?«
    Sie nickte.
    Carl kam von der anderen Seite um den Wagen herum.
    »Wir haben alles, was wir brauchen«, verkündete er. »Was hältst du von unserem Gefährt?«
    Abermals nickte sie und schritt langsam um den großen Familienwagen. Im Inneren befanden sich sieben Sitze – zwei vorne, zwei hinten und drei in der Mitte. Die beiden Vordersitze und der Sitz hinter jenem des Fahrers waren leer. Auf den übrigen stapelten sich Vorräte.
    Während sie durch die getönten Glasscheiben blickte, wurde ihr klar, dass sie im Freien standen und es zum ersten Mal, seit alles begonnen hatte, niemanden zu kümmern schien, was mit der verheerten Welt rings um sie geschehen war. Sie waren von Leichnamen umgeben – einige lagen still, andere bewegten sich –, und dennoch empfand sie an jenem Tag nicht die geringste Furcht. Vermutlich lag es an ihrem bevorstehenden Aufbruch. Wahrscheinlich hatte der Entschluss, dass sie den Schutz des Gemeindezentrums nicht mehr brauchte, unterbewusst ihre Denkweise verändert.
    »Hattet ihr unterwegs Schwierigkeiten?«, erkundigte sie sich und löste sich aus ihrer Grübelei.
    »Schwierigkeiten?«, gab Carl überrascht zurück. »Was für Schwierigkeiten?«
    Sie zuckte mit den Schultern.
    »Keine Ahnung. Herrgott noch mal, ihr habt den Vormittag mitten in einer Stadt voller wandelnder Leichen verbracht. Was weiß ich, was ihr gesehen habt. Hattet ihr ...«
    Michael unterbrach sie.
    »Es ist nichts passiert«, sagte er abrupt. »Wir sind wandelnden Leichen zuhauf begegnet, aber es gab keine Zwischenfälle.«
    »Und es waren gar nicht mal so viele Leichen, wie ich erwartet hatte«, fügte Carl hinzu.
    »Das liegt daran, dass sie sich allmählich verteilen«, brummte Michael, während er ihre Tragetaschen und Kartons im Kofferraum des Wagens verstaute.
    »Verteilen?«, fragte Emma.
    »Das ist der Löschpapiereffekt.«
    »Soll heißen?«
    Michael hielt inne und drehte sich zu ihr um.
    »Als alles angefangen hat, gab es eine hohe Konzentration von Leichen im Stadtzentrum, nicht wahr? Die Menschen waren bei der Arbeit oder in der Schule, richtig?«
    »Ja ...«, pflichtete sie ihm bei, ohne zu wissen, worauf er hinauswollte.
    »Diejenigen, die aufstehen und rumlaufen, wandeln willkürlich umher, somit ist zu erwarten, dass sie sich vom Stadtzentrum ausgebreitet haben wie Tinte über Löschpapier.«
    »Ich verstehe ...«, murmelte sie alles andere als überzeugt.
    »Es könnte eine Weile dauern, aber es hat begonnen, und ich wette, genau das wird geschehen.«
    Damit wandte er die Aufmerksamkeit wieder dem Beladen des Wagens zu. Emma dachte weiter nach und versuchte angestrengt, seiner Logik zu folgen.
    »Wenn stimmt, was du sagst«, fuhr sie schließlich fort, »müsste sich im Verlauf der Zeit eine gleichmäßige Anzahl von Leichen über das gesamte Land ausbreiten, oder?«
    Michael überlegte kurz.
    »Ich schätze schon. Warum?«
    »Wenn das der Fall ist«, meinte sie leise, »warum dann die Mühe zu fliehen?«
    »Wir fliehen nicht«, fauchte er und mied bewusst den durchaus gültigen Punkt ihrer Äußerung. »Wir sind hier in eine Ecke gedrängt. Wir verschaffen uns lediglich eine Chance.«
    Da er spürte, dass die Unterhaltung den Deckel einer besonders unangenehmen Jauchegrube geöffnet hatte, knallte er die Wagentür zu, verriegelte den Van und steuerte zurück ins Gemeindezentrum.
    Die Stille, die Michael begrüßte, als er den Hauptsaal betrat, war die bedrückendste Lautlosigkeit, die er gehört hatte, seit er vor wenigen Tagen hier eingetroffen war. Der Rest der Anwesenden – rund zwanzig verängstigte Personen – verharrte jäh und starrte ihn, Carl und Emma in schweigendem Einklang an. Einige jener Menschen hatten von Michael in all der gemeinsamen Zeit im Gemeindezentrum kaum Notiz genommen. Einige hatten mit niemandem ein Wort gewechselt, seit sie angekommen waren. Und dennoch beschlich Michael plötzlich und unerwartet der deutliche Eindruck, dass sie drei gegen den vereinten Rest standen.

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