Herbst - Beginn
durchlief. Im Zimmer herrschten niedrige Temperaturen, und ihr war kalt, obwohl sie vollständig angezogen geschlafen hatte. Zwar befanden sich Decken und Laken auf dem Bett, doch sie konnte sich nicht überwinden, davon Gebrauch zu machen. Sie wusste nicht, ob das Bett einem der Toten gehört hatte, die sie im Wald zurückgelassen hatten, und der Gedanke hatte ihr solches Unbehagen bereitet, dass sie es nicht über sich gebracht hatte, sich auszuziehen und unter die Decke zu schlüpfen. Dennoch hatte sie besser geschlafen als zu irgendeinem Zeitpunkt im Verlauf der letzten Woche.
Um Michael nicht zu wecken, schlich sie auf Zehenspitzen durch das kalte Zimmer zum Fenster und zog die Vorhänge auf. Michael regte sich und brummte etwas Unverständliches, bevor er sich herumrollte und leise weiterschnarchte, ohne zu bemerken, dass Emma ihn beobachtete.
Sie lehnte die Stirn an das kühle Glas und blickte hinab auf die trostlose Welt. Über dem Boden schwebte frühmorgendlicher Nebel, der sich in jeglichen Vertiefungen und Gräben dicht eingenistet hatte. Zwischen den Baumwipfeln, deren Umrisse sich schwarz vor dem stumpfen, gräulich purpurnen Himmel abzeichneten, sangen und flogen Vögel. Ein paar kurze, segensreiche Augenblicke gelang es Emma zu glauben, dass an jenem Tag mit dem Rest der Welt alles in Ordnung war. Sie war bislang nicht oft um vier Uhr fünfundzwanzig aufgestanden – wie ihr der Wecker neben dem Bett verraten hatte –, aber sie vermutete, dass jeder neue Tag wohl so ähnlich begann.
Sie erspähte eine einsame Gestalt, die ziellos über ein unlängst gepflügtes Feld unmittelbar nördlich des Bauernhauses stolperte. Im Verlauf der letzten Tage hatte sie tausende der Mitleid erregenden Kreaturen gesehen, doch sie entschied sofort, dass sie diesen speziellen wandelnden Leichnam am meisten von allen hasste. Ihr Mut sank jäh wie ein zu Boden fallender Stein, als sie den Schemen erblickte, der unbeholfen durch den Nebel stakste. Hätte sie ihn nicht gesehen, wäre es ihr vermutlich möglich gewesen, die Illusion einer normalen Welt noch ein paar Minuten länger aufrechtzuerhalten. So aber wurde ihr schlagartig wieder bewusst, dass sie ihm selben verzweifelten, unverständlichen Albtraum gefangen war wie in der letzten Nacht und der Nacht davor und der Nacht davor ... Emma begann zu weinen. Nach einer Weile wischte sie sich aufgewühlt und verärgert die Augen ab. Ein paar gnadenreiche Sekunden hatte sich alles normal angefühlt, doch nun wähnte sie sich wieder in der Hölle. Sie fühlte sich so kalt, leer und leblos wie der wandelnde Leichnam auf dem Feld.
»Geht es dir gut?«, fragte plötzlich eine Stimme aus der Düsternis hinter ihr. Erschrocken stockte Emma der Atem, und sie wirbelte herum. Michael stand vor ihr. Seine sonst so strahlenden Augen wirkten stumpf vor Schläfrigkeit, das kurze Haar stand struppig und zerzaust in alle Richtungen.
»Alles in Ordnung«, murmelte sie mit hämmerndem Herzen.
»Habe ich dich erschreckt?«, fragte er in entschuldigendem Tonfall. »Tut mir Leid, ich habe beim Aufstehen versucht, so laut wie möglich zu sein, aber du –«
Emma schüttelte den Kopf, um ihm zu zeigen, dass es keine Rolle spielte. Ihre Gedanken waren woanders gewesen. Er hätte hinter ihr aufschreien können, und sie hätte es nicht bemerkt.
Michael näherte sich ihr einen weiteren Schritt, und sie stellte fest, dass auch er angezogen geschlafen hatte. Sie drehte sich wieder zum Fenster um und ließ den Blick prüfend über den von Nebelschwaden überzogenen Horizont wandern, wo sie verzweifelt hoffte, Anzeichen richtigen Lebens zu entdecken. Gott, wie sehr sie sich wünschte, jemanden zu erspähen. Nicht eine weitere der verhassten wandelnden Leichen, sondern jemanden, der sich zielstrebig und planvoll bewegte, jemanden, der noch wirklich lebendig war.
»Wonach hältst du denn Ausschau?«, erkundigte sich Michael.
Sie zuckte mit den Schultern und konnte sich nicht dazu überwinden, ihm ehrlich zu antworten.
»Nach gar nichts«, brummte sie stattdessen. »Hätte wohl auch keinen Sinn, oder? Es ist niemand mehr übrig.«
Michael wandte sich ab, ging leise aus dem Zimmer und ließ sie alleine auf eine tote Welt hinausblicken.
19
Es war zwanzig nach neun, als Michael, Carl und Emma sich in der Küche zusammensetzten. Carl und Emma saßen einander ehern schweigend an einem runden Kiefernholztisch gegenüber, während Michael sich damit plagte, aus den kargen Resten der Vorräte, die sie
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