Herbst - Beginn
widmete. Emma musterte ihn eingehend. Wenngleich er vom ersten Tag an eher wie ein verschlossener Einzelgänger gewirkt hatte, begann sie allmählich Anzeichen zu sehen, dass sich mehr in ihm verbergen könnte, als sie dachte. Er war barsch, eigensinnig und fallweise sogar aggressiv, dennoch vermeinte sie zu erkennen, dass er trotz seiner scheinbar egozentrischen Gefühle aufrichtig besorgt um ihr und Carls Wohlergehen war.
29
Carl verbrachte während der folgenden Tage viele Stunden abgekapselt in seiner Dachkammer. Ihm erschien es sinnlos, sich daraus hervorzuwagen. Was gab es schon zu tun? Sicher, er könnte sich mit Emma und Michael unterhalten, aber wozu? Jedes Gespräch, ganz gleich, wie es begann, schien damit zu enden, dass jeder von ihnen insgeheim in völliger Trostlosigkeit versank. Es lief immer darauf hinaus, dass sie darüber redeten, wie wenig sie noch übrig oder wie viel sie verloren hatten. Beides schmerzte Carl zu sehr. Er war zu dem Schluss gelangt, dass es für alle Betroffenen am einfachsten war, wenn er es sich ersparte.
Sein Zimmer war breit und geräumig, zumal es sich fast über die gesamte Länge des Hauses erstreckte. Durch die höhere Lage war es zudem relativ warm und, am wichtigsten für Carl, abgeschieden. Es gab für niemanden einen Grund heraufzukommen, außer, um ihn zu besuchen. Und da niemand das Bedürfnis verspürte, ihn zu besuchen, kam auch niemand herauf. So gefiel es Carl allmählich.
Obwohl die Kammer kitschig und altmodisch war, schien sie bis vor kurzer Zeit verwendet worden zu sein. Schon als sie eingetroffen waren, hatte Carl vermutet, dass sie als zeitweilige Unterkunft für ein Enkelkind auf Besuch gedient haben dürfte, vielleicht aufs Land geschickt, um auf der Farm die letzten Sommerferien zu verbringen. Die Einrichtung war karg – ein Einzelbett, ein Doppelschrank, eine Kommode, zwei hell lackierte Stühle, ein Bücherregal und ein abgewetztes, aber gemütliches Sofa. Auf dem Schrank fand Carl eine Holztruhe mit Spielzeug, einigen alten Büchern und einem Fernglas, das er, nachdem er die Linsen gereinigt hatte, dafür verwendete, um durch das Fenster zu beobachten, wie die Welt draußen langsam verweste und verfaulte.
Es war kurz vor halb vier am Nachmittag, und er hörte Emma und Michael auf dem Hof arbeiten. Carl verspürte keinerlei Schuldgefühle darüber, ihnen nicht zu helfen, zumal er keinen Sinn in dem sah, was sie taten. Er war zufrieden damit, sich zurückzulehnen und untätig zu bleiben. Gut, es mochte langweilig sein, doch welche Beschäftigung gab es schon? Nichts schien es wert, ein Risiko oder eine Anstrengung auf sich zu nehmen.
Carl konnte sich nicht erinnern, welcher Tag gerade war.
Er saß auf einem Stuhl am Fenster und überlegte eine Weile, ob Freitag, Samstag oder Sonntag sein mochte. Als das Leben noch normal gewesen war und er gearbeitet hatte, hatte jeder Tag ein bestimmtes Gefühl vermittelt. Die Woche hatte stets als schleichende Hölle begonnen und sich mit dem Herannahen des Freitagabends allmählich gebessert. Nichts von alledem schien noch eine Rolle zu spielen. Jetzt glich jeder Tag dem vorherigen. Der Vortag war frustrierend, eintönig und grau gewesen, am nächsten Tag würde es dasselbe sein.
Heute – welcher Tag auch sein mochte – war es vergleichsweise warm und klar für die Jahreszeit. Mit dem Fernglas an den Augen konnte er meilenweit über die Felder blicken. Die Welt präsentierte sich so still und frei von Ablenkungen, dass er selbst aus der Ferne Details wie den beeindruckenden Turm einer Kirche ausmachen konnte. Während die Sonne langsam auf den Horizont zuwanderte, beobachtete er, wie die Farbe vom Kirchturm schwand und er sich in einen pechschwarzen Umriss vor den hellen Purpur- und Blautönen des frühen Abendhimmels verwandelte. Schon seltsam , dachte er, dass alles so ruhig und friedvoll wirkt . Doch unter dem Deckmantel der vermeintlichen Normalität erfüllten Tod, Krankheit und Zerstörung die Welt. Selbst die grünsten und reinsten, scheinbar unberührten Felder bildeten Brutstätten für Seuchen und Verheerung.
Ein Stück vor der Kirche sah Carl einen geraden Straßenabschnitt, den zu beiden Seiten Wohnhäuser und Geschäfte säumten. Die Beschaulichkeit des Anblicks wurde jäh unterbrochen, als ein dürrer Hund in Carls Sichtfeld rannte. Das sichtlich aufgeregte Tier verlangsamte die Schritte und schlich hechelnd, mit gesenkter Schnauze, hängendem Schwanz und leicht geduckt die Straße entlang.
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