Herbst - Beginn
verließen, würde er gefährlich ungeschützt sein.
30
Wind und Regen arteten rasch in einen tosenden Sturm aus. Gegen einundzwanzig Uhr dreißig wurde das abgelegene Gehöft von heftigen Böen umfegt, die durch die Wipfel der umliegenden Bäume fegten und an Teilen der hastig errichteten Barriere rings um das Gebäude rüttelten. Aus den dunklen, wirbelnden Wolken prasselte sintflutartiger Regen herab und verwandelte den einst sanft plätscherten Bach neben dem Haus in einen reißenden Strom schäumenden Wassers.
Zum ersten Mal seit mehreren Tagen hatten die Überlebenden den Generator angelassen. Es schien eine gesicherte Annahme, dass der Lärm des Unwetters das stete, mechanische Dröhnen der Maschine übertönen würde. Michael, der es satt hatte, in der Dunkelheit zu sitzen, war zu dem Schluss gelangt, dass ein wenig Komfort das Risiko wert war.
Relativ entspannt und unbeeinträchtigt von den widrigen Verhältnissen draußen saßen Michael, Emma und Carl im Wohnzimmer und sahen sich zusammen in der Wärme eines offenen Kaminfeuers ein Video an. Der Film selbst – ein schlecht synchronisierter Kung-Fu-Streifen, den er bereits mehrfach hinter sich hatte, seit sie ihn vom Supermarkt in Byster mitgenommen hatten – langweilte Michael rasch, dennoch fühlte er sich einigermaßen wohl. Während die untoten Überreste der Bevölkerung draußen unter dem Wetter litten, hatte er es warm und trocken. Sogar Carl war aus seiner Dachkammer hervorgelockt worden. Ihr gemeinsamer Abend bot eine kurze, aber dringend nötige Abwechslung vom Druck und der Langeweile, die einander sonst in ihrem Leben abwechselten.
Emma fand es schwierig, sich den Film anzusehen. Nicht nur, weil es einer der miesesten Streifen war, den sie je gesehen hatte, sondern auch, weil er unerwartete und unangenehme Gefühle in ihr wachrüttelte. Während er sie zwar durchaus eine Weile von dem ablenkte, was um sie herum geschah, erinnerte er sie zugleich an das Leben, das sie früher geführt hatte. Obwohl sie sich eigentlich mit gar nichts identifizieren konnte – die Charaktere, ihr Akzent, die Schauplätze, die Geschichte und die willkürliche Musik, einfach alles wirkte fremd – fühlte sich sonderbarerweise gleichzeitig alles sofort vertraut und sicher an. Bei einer Szene mit einer Autoverfolgungsjagd durch die hektischen Straßen von Hongkong ertappte sie sich dabei, dass sie die Menschen im Hintergrund beobachtete, die ihren alltäglichen Geschäften nachgingen, statt auf die Handlung im Vordergrund zu achten. Und Emma beneidete sie. Es fühlte sich unerwartet an, eine normale Stadt zu sehen, in der sich normale Menschen bewegten und miteinander Umgang pflegten. Daneben nistete sich ein kaltes Unbehagen in ihrer Magengrube ein. Unwillkürlich blickte sie in jedes einzelne Gesicht und fragte sich, was aus den Schauspielern geworden sein mochte, seit der Film gedreht worden war. Sie sah hunderte verschiedene Menschen – alle mit einer eigenen, einzigartigen Identität, einer Familie und einem Leben ... und sie spürte, dass sie mittlerweile praktisch alle tot sein würden.
Das Ende des Films und ein kitschiger Showdown zwischen dem Helden und dem Schurken nahten. Die Filmemacher hatten dabei auf billige Effekthascherei gesetzt. Der Hauptdarsteller war in eine riesige Lagerhalle gefahren, in der er sich nun allein befand. Die spärliche Beleuchtung sorgte für eine düstere Atmosphäre, und ein übertrieben dramatischer Soundtrack mit Orchestermusik schwoll zu einem offenkundigen Crescendo an. Dann verstummte die Musik jäh, und während der Held des Films auf seinen Gegenspieler wartete, kehrte Stille im Haus ein.
Emma sprang von ihrem Sitzplatz auf.
»Was ist denn los?«, fragte Michael sofort besorgt.
Ein paar Sekunden lang antwortete sie nicht. Reglos stand sie mitten im Raum und kniff die Züge vor Konzentration zusammen.
»Emma ...«, bedrängte sie Michael
»Pssst!«, zischte sie.
Carl legte desinteressiert den Kopf schief, um an Emma vorbeizusehen, die vor dem Fernseher stand.
Sie wirkte verängstigt. Michaels Besorgnis wuchs.
»Was ist denn?«, wollte er wissen.
»Ich habe etwas gehört ...«, erwiderte sie mit leiser Stimme.
»Wahrscheinlich aus dem Film«, sagte er in einem Versuch, sie zu beruhigen. Aber sein Mund fühlte sich trocken an, und er war nervös. Es sah Emma nicht ähnlich, grundlos Panik zu verbreiten.
»Nein«, fauchte sie und blickte ihn finster an. »Ich habe draußen etwas gehört, ich bin ganz
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