Herbst - Beginn
Kopf.
»Ich habe die ganze letzte Woche nichts anderes gemacht, als darüber nachzudenken. Schau, das ist nichts Persönliches. Du warst es doch immer, der gepredigt hat, wie wichtig es ist, sich um sich selbst zu kümmern, oder?«
»Ja, schon, aber –«
»Dann müsstest gerade du verstehen, was ich tue. Du machst das, was am besten für dich und Emma ist, ich mache das, was ich für mich am besten halte. Schon morgen könnten wir ohnehin alle tot sein, oder –«
»Hör auf, so zu reden«, fiel Michael ihm plötzlich wütend ins Wort.
Carl ignorierte ihn und fuhr fort.
»Wir könnten morgen alle tot sein, oder wir drei könnten noch in zehn Jahren hier sein. Ich kann mich nicht einfach wegsperren, herumsitzen und abwarten, bis etwas geschieht. Wenn das alles ist, was wir für den Rest unseres Lebens tun wollen, dann können wir es ebenso gut gleich beenden.«
»Ich verstehe, was du sagst«, seufzte Michael und fand sich damit ab, dass nichts, was er sagen oder tun würde, Carl aufhalten könnte. »Ich verstehe es vollkommen, trotzdem halte ich dich für einen dämlichen Mistkerl.«
»Das ist deine Meinung.«
Michael stand auf und ging einen Schritt auf Carl zu, ehe er wieder stehen blieb.
»Bleib doch noch etwas länger, ja? Morgen früh könnte alles anders aussehen.«
Carl schaute zu ihm auf und brachte ein halbherziges Lächeln zustande.
»Genau das ist es, wovor ich mich fürchte«, murmelte er, wobei er sich erschöpft und resigniert anhörte. »Ich kann nicht bleiben. Ich muss hier weg.«
Da Michael spürte, dass jede Verlängerung der Unterhaltung sinnlos gewesen wäre, drehte er sich um und ging ins Haus.
Gegen achtzehn Uhr war Carl bereit aufzubrechen. Sein mit Taschen beladenes Motorrad stand neben dem Tor. Er trug den Lederdress und die Stiefel, die er zuvor dem Leichnam in Pennmyre abgenommen hatte, hielt den frisch desinfizierten Helm in der Hand und stand mit Emma und Michael an der Eingangstür des Hauses. Es war soweit. Er wusste, dass es kein Zurück gab und es keinen Sinn hatte, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Er sah die beiden anderen an.
»Bereit?«, fragte Emma.
Carl nickte und schluckte. Sein Mund fühlte sich trocken an.
Es war ein kalter Abend, und ein steter, beißender Wind wehte. Emma zog den Reißverschluss ihrer Fleecejacke zu und steckte die Hände tief in die Taschen.
»Ein letztes Mal frage ich noch«, sagte Michael und hatte Mühe, sich über den Wind Gehör zu verschaffen. »Bist du dir ganz sicher?«
Carl nickte.
»Ich mache mich besser auf den Weg«, meinte er. Damit setzte er den Sturzhelm auf. Er fühlte sich den beiden anderen dadurch entfernter, was es einfacher gestaltete, den ersten Schritt zu tun und sich in Bewegung zu setzen.
Gemeinsam gingen die drei Überlebenden zum Motorrad.
»Ich mache das Tor auf«, sagte Michael. »Du schiebst das Motorrad durch und startest es. Sobald ich den Motor höre und sehe, dass du fährst, schließe ich das Tor. In Ordnung?«
Carl hob eine in Leder gekleidete Hand und streckte den Daumen hoch. Er warf einen letzten Blick über die Schulter zu dem Bauernhaus, dann stieg er auf das Motorrad. Er klappte mit dem Fuß den Seitenständer ein und rollte vorsichtig ein paar Meter vorwärts.
»Warte beim Haus«, forderte Michael Emma auf und bedeutete ihr, zurück und aus dem Weg zu gehen. Schließlich hatten sie keine Ahnung, was sie auf der anderen Seite des Tores auf der Brücke erwarten würde. Emma, die nur allzu gern einen größtmöglichen Abstand zwischen sich und die Welt jenseits der Barrikade brachte, kehrte langsam zum Haus zurück. Aufmerksam beobachtete sie, wie Michael vorsichtig die acht Vorhängeschlösser entriegelte und den Holzbalken anhob, der das Tor sicherte.
»Bereit?«, fragte er.
Carl stand rittlings über dem Motorrad und umfasste mit den Händen den Lenker. Er nickte.
Langsam und vorsichtig schob Michael eine Seite des Tors auf. Carl rollte mit dem Motorrad vorwärts, bis er sich auf der gegenüberliegenden Seite der Brücke befand. Er blickte über die Schulter und sah, dass Michael ein paar Schritte nach vorn gegangen war, ohne jedoch das Tor loszulassen, bereit, es zu schließen, sobald Carl auf dem Weg war. Erst wenige Augenblicke befanden sie sich draußen, und schon sah Michael Anzeichen von Bewegung im Gebüsch.
Wenige Sekunden später war es vorbei. Carl hob den Fuß an, trat damit aufs Pedal und startete das Motorrad. Der mächtige Motor stotterte kurz, dann erwachte er brüllend
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