Herbst - Beginn
bedrückende Stimmung zuviel. Sie ging hinauf ins Schlafzimmer und wollte eine Weile alleine sein.
Gegen Mitternacht reichte es auch Michael. Die letzten fünfzig Minuten hatte er ständig abwechselnd gegähnt und war auf seinem Stuhl eingedöst. Jedes Gähnen wurde länger, bis ihm schwindlig wurde und seine Augen tränten. Er sehnte sich nach Schlaf, dennoch blieb er sitzen, obwohl Emma sich bereits vor über einer Stunde nach oben zurückgezogen hatte. Eine Weile überlegte er, ob sich die Mühe überhaupt lohnte, zu Bett zu gehen. Würde es ihm überhaupt gelingen, abzuschalten und Schlaf zu finden? Er hätte auch auf dem Stuhl schlafen können, doch dieser war ungemütlich, und Michael wäre steif, voller Schmerzen und immer noch müde aufgewacht. Ein paar Minuten nach Mitternacht zwang er sich, aufzustehen und nach oben zu gehen.
Aus unerfindlichen Gründen beschloss Michael, den Versuch zu wagen, in einem anderen Zimmer zu schlafen. Seit ihrem Eintreffen auf der Penn Farm hatte er sich einen Raum mit Emma geteilt. Obwohl er sich ihre Gesellschaft und den Trost wünschte, den ihre Gegenwart spendete, spürte er, dass es in jener Nacht besser wäre, woanders zu schlafen. Ob er damit einer unterbewussten und fehlgeleiteten Moralvorstellung nachgab, wusste er nicht – es kümmerte ihn auch nicht. Was immer ihn dazu bewogen haben mochte, es funktionierte ohnehin nicht. Allein in der Finsternis brachte er es nicht einmal fertig, die Augen länger als ein paar Sekunden zu schließen, geschweige denn, zu schlafen. Weniger als eine Stunde, nachdem er die Treppe erklommen hatte, zündete er eine Kerze an und schlich zurück hinunter. Er bemühte sich, so wenige Geräusche wie möglich zu verursachen, nahm sich etwas zu trinken und entfachte ein Feuer im Kamin. Danach setzte er sich hin, um ein Buch zu lesen.
Zwanzig Minuten später betrat Emma, die ebenfalls nicht schlafen konnte und sich Sorgen gemacht hatte, als sie unten Geräusche gehört hatte, auf Zehenspitzen das Wohnzimmer. Sie fand Michael zusammengerollt auf einem Läufer vor dem Kamin vor, streckte die Hand aus und schüttelte ihn behutsam an der Schulter.
»Verdammte Scheiße!«, brüllte er auf, wirbelte herum und setzte sich erschrocken auf. »Herrgott, du hast mir einen Mordsschrecken eingejagt. Ich wusste nicht, dass du hier unten bist.«
Verdutzt durch die unerwartete Heftigkeit seiner Reaktion setzte Emma sich auf den nächstbesten Stuhl. Sie zog die Knie unter das Gesäß und versuchte bewusst, sich so klein wie möglich zu machen. Trotz des Feuers fühlte es sich im Haus bitterkalt an.
»Tut mir Leid«, murmelte sie. »Du hast ausgesehen, als würdest du schlafen.«
»Das soll wohl ein Witz sein, was? Ich habe die ganze verdammte Nacht kein Auge zugetan.«
»Ich auch nicht.«
Michael trank sein Glas aus, streckte sich und sah sich im Wohnzimmer um. Irgendwie wirkte das Haus in jener Nacht größer, fast zu groß – und Carls Aufbruch stellte den offensichtlichen Grund dar, warum dem so zu sein schien. Der Raum, in dem sie saßen, war erfüllt von den willkürlich flackernden Schatten, die im Haus gefangen blieben, da sämtliche Vorhänge zugezogen waren. Sie scheuten sich davor, auch nur den geringsten Lichtschimmer hinaus in die Nacht dringen zu lassen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Wenn sie miteinander sprachen, taten sie es beide in einem gedämpften Flüsterton, der leise durch das Haus hallte; wenn sie in einen anderen Raum gingen, schlichen sie auf Zehenspitzen, um keine unnötigen Geräusche zu verursachen. Alles, was die Außenwelt auf sie aufmerksam machen konnte, war tabu, und die ständigen Einschränkungen vermittelten Michael ein Gefühl von Klaustrophobie. Er wollte laut schreien, Musik spielen, lachen oder irgendetwas anderes tun, als herumzusitzen und zu beobachten, wie die Zeiger der Uhr an der Wand langsam ihre Kreise drehten. Doch sie wussten beide, dass sie es sich nicht leisten konnten, ein Risiko einzugehen.
Michael musterte seine Gefährtin, die auf dem Stuhl kauerte. Sie wirkte müde und traurig. Aus ihren Augen sprach Wehmut, und sie schien tief in Gedanken versunken.
»Komm her«, forderte er sie herzlich auf und streckte ihr die Arme entgegen.
Einer weiteren Ermutigung bedurfte es nicht. Emma glitt vom Stuhl und setzte sich neben ihn. Behutsam schlang er einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Er küsste sie zärtlich auf die Stirn und hielt sie fest.
»Es ist verflucht kalt heute Nacht«,
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