Herbst - Beginn
drehten sich nach der Quelle des Geräusches um, das die sonst allgegenwärtige Stille zerschmetterte – und sie stolperten darauf zu. Die meiste Zeit erwiesen sie sich als viel zu langsam, vereinzelt allerdings verschworen sich das Schicksal und die Umstände, sodass ihm einige der Toten gefährlich nahe kamen. Rasch entdeckte Carl, dass die beste Möglichkeit, sie zu überwinden, darin bestand, einfach mit unverminderter Geschwindigkeit durch sie hindurchzupflügen. Die abgezehrten Leichen boten wenig Widerstand. Einmal schlurften die schattigen Umrisse einer toten jungen Frau mitten auf die Straße und hielten geradewegs auf das heranrasende Motorrad zu. Statt Zeit und Mühe darauf zu verschwenden, ihr auszuweichen, gab Carl Gas. Er erfasste den Leichnam mit voller Wucht; wie sich herausstellte, war er so verfault und brüchig, dass er sich beim Aufprall regelrecht auflöste.
Abgesehen vom Licht des Motorrads verhüllte praktisch undurchdringliche Finsternis die Welt. Das einzige andere Licht stammte vom Vollmond, der gelegentlich zwischen einer dichten, wirbelnden Wolkenschicht hervorlugte. Die silbrige Helligkeit, die sich dann auf die Welt herab ergoss, wirkte kalt und grausam. Die Schatten, die sie warf, ließen die grotesken Anblicke rings um Carl noch unerträglicher erscheinen.
Er wusste, dass er es sich nicht leisten konnte anzuhalten – keine Sekunde lang.
Ihm blieb keine andere Wahl, als immer weiterzufahren. Selbst, wenn er beschlösse, umzukehren und zurück zur Penn Farm zu fahren, hätte er kaum eine Chance, Emma und Michael seine Rückkehr anzuzeigen. Heerscharen von Leichen würden sich auf ihn stürzen, bevor er den Bach überqueren oder durch das Tor gelangen könnte.
Er konnte nur noch weiterrasen, bis er die Sicherheit der Zuflucht der Überlebenden in Northwich erreichte.
Carl wünschte, er hätte die Stadt nie verlassen.
36
Das Bauernhaus fühlte sich genauso kalt und leer an wie der Rest der Welt. Mehrere Stunden lang saßen Emma und Michael in völliger Finsternis fast ständig schweigend zusammen und dachten ununterbrochen an Carl. Wenngleich sie die Beweggründe für seinen Aufbruch ansatzweise zu verstehen vermeinten, hieß keiner der beiden gut, was er getan hatte. Michaels eigene Heimat schien ihm mittlerweile Millionen von Meilen entfernt, und tief in seinem Herzen spürte er, dass es dort nichts gab, wofür sich eine Rückkehr lohnen würde. Alles, was er zurückgelassen hatte, waren Vertrautheit und einige Besitztümer, doch nichts von alledem zählte noch etwas. Gewiss gab es einige Dinge von sentimentalem Wert, die er gerne bei sich gehabt hätte, aber selbst jene wenigen kostbaren Habseligkeiten waren es nicht wert, das Leben dafür zu riskieren. Allerdings konnte er nachvollziehen, dass Carl gezwungen gewesen war, weit mehr zurückzulassen als er oder Emma. Zwar konnte die Rückkehr nach Northwich seine Familie nicht zurückbringen, doch wenn sie ihm für den Rest seiner Tage Seelenfrieden bescherte, hätte wohl auch Michael die Chance ergriffen.
Ohne den Generator herrschte im Haus Dunkelheit, wodurch es kalt und unwirtlich wirkte. Am späten Abend hatte sich die Düsternis derart verdichtet, dass Emma und Michael einander kaum sehen konnten, obwohl sie lediglich auf gegenüberliegenden Seiten desselben Zimmers saßen. Unterhaltungen blieben Mangelware. Obwohl sie einander tausende Dinge mitzuteilen hatten, brachten sie beide kaum ein Wort hervor. Ungeachtet der Tatsache, dass Carl den Großteil der letzten paar Tage abgekapselt in seinem Zimmer verbracht hatte, empfanden Emma und Michael seine Abwesenheit als schmerzlich offenkundig. Alles fühlte sich unvollständig an, nichts mehr so wie zuvor. Darüber hinaus konnten die beiden Überlebenden nur daran denken, was geschehen konnte, während ihr Gefährte sich auf den Straßen befand. Je mehr sie darüber nachgrübelten, desto einfacher wurde es für sie zu akzeptieren, was er getan hatte und weshalb. Quälend daran war jedoch, nicht zu wissen, ob er noch lebte oder nicht. War er noch in Richtung Northwich unterwegs? Hatte er die Stadt bereits erreicht? War er bei den restlichen Überlebenden eingetroffen oder war ihm entlang der Strecke etwas zugestoßen? Hatte sich die Anzahl der wandelnden Leichen in der Stadt als zu übermächtig erwiesen, um sie zu überwinden? So sehr sie es versuchten, weder Emma noch Michael gelang es, derlei düstere Gedanken aus dem Kopf zu verbannen. Schließlich wurde Emma die
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