Herbst - Läuterung
wenn wir das wirklich wollen.« Er nahm ein anderes Magazin aus dem Ständer neben Michael, blätterte darin und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Herrgott«, flüsterte er. »Ich hatte das alles hier vergessen. Ich habe bis jetzt überhaupt nicht an sowas gedacht.«
Michael fuhr fort, seine Zeitschrift durchzusehen, während er über Stayts Worte grübelte. Er verstand vollkommen, worüber er sprach. Für Stayt konnte er sich nicht verbürgen, doch er selbst hatte die vergangenen zwei Monate entweder damit verbracht, mit halsbrecherischer Geschwindigkeit zu flüchten oder still dazusitzen, um sich in verängstigtem Schweigen verborgen zu halten. Dies war das erste Mal, dass sie sich frei bewegen konnten. Es war seit Wochen das erste Mal, dass einem von ihnen der Luxus möglich war, innezuhalten, nachzudenken, zu reagieren und sich zu erinnern, ohne sich ständig mit der Angst vor den endlos scheinenden Leichenhorden, die ihre zertrümmerten Leben plagten, über die Schulter blicken zu müssen.
Es war qualvoll, sich umzusehen und schmerzte mehr, als es irgendeiner von ihnen erwartet hätte. Nun, da sich ihnen die Möglichkeit geboten hatte, sich zu erinnern, war es ihnen unmöglich, damit wieder aufzuhören. Sie wühlten in den modrigen Beständen des Geschäfts mit Nostalgie und schwerer, herzzerreißender Traurigkeit. Zwei Monate, in denen ihre ungesunden, beunruhigenden und quälenden Empfindungen unterdrückt und beiseitegeschoben worden waren, hatten von den meisten – wenn nicht sogar allen – ihren Tribut gefordert. Michael war sich bewusst, welcher Schaden dadurch angerichtet worden war.
Wochenlang war er durch die Geschwindigkeit sowie das Ausmaß der Ereignisse, die sich um ihn entfaltet hatten, davor bewahrt worden, dass ihm die Erinnerungen an alles Verlorene durch den Kopf gingen. Selbst die kurze Ruhepause im unterirdischen Militärbunker war mit genügend Ablenkung und Schwierigkeiten ausgefüllt gewesen, um seinen Geist und seine Aufmerksamkeit lediglich auf die unmittelbare Gegenwart gerichtet zu halten. Seit sie allerdings auf der Insel angekommen waren, schienen sich das Tempo und die Dringlichkeit des Lebens dramatisch verlangsamt zu haben, wodurch sie nun Zeit hatten, um zu trauern.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes saß Peter Guest auf einem Ladentisch und weinte. Er schluchzte und schnaubte nicht einfach still in sich hinein, sondern heulte voll Schmerzen und kreischte beinahe vor der plötzlichen Freisetzung der bisher aufgestauten und verdrängten Gefühle. Michael bemerkte, dass Tony Hyde am Kaufhaus vorbeiging. Der Lärm, der von Guest erzeugt wurde, erreichte eine solche Lautstärke, dass Hyde stehen blieb und auf das Gebäude zuging. Er beugte sich besorgt nach innen. »Alles in Ordnung?«, fragte er.
Stayt nickte.
Michael ging zu Guest hinüber. »Alles in Ordnung, Pete?«, wollte er wissen. Eine sinnlose Frage.
Guest blickte hoch, während Tränen über sein müdes Gesicht strömten, schüttelte den Kopf und blickte wieder nach unten. Michael sah, dass er in seinen Händen ein kleines Spielzeug hielt. Er konnte nicht genau erkennen, worum es sich handelte. Vielleicht ein Auto? Eine Art Kreisel oder ein Raumschiffmodell? Was es auch immer war, Guest starrte darauf, als würde es sich dabei um das wichtigste Ding der Welt handeln. Er würde es nicht hinlegen. Er würde es nicht hier liegen lassen.
Guest hatte seine Fassung erst eine Stunde später in so ausreichendem Maß zurückgewonnen, dass er wieder in der Lage war, mit den anderen Überlebenden zu sprechen. Selbst dann, als er neben Michael auf der Motorhaube des Kleinlasters saß und auf die Masse der Leichen starrte, die in der Nähe brannten, tröpfelten ihm noch zeitweilig Tränen über die Wangen.
»Es ist, als würde man eine Bierflasche schütteln, was?«, sagte er auf einmal.
»Wie ist was?«, fragte Michael verwirrt zurück.
»Wie wir uns fühlen. Ich weiß, dass es Ihnen auch so geht, das kann ich an Ihrem Gesichtsausdruck sehen. Ich kann es in den Gesichtern von allen sehen.«
»Keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, brummte Michael.
»Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen war, aber mir sind Dinge zugestoßen, mit denen ich nicht umgehen konnte. Ich habe Sachen gesehen und erfahren, über die ich nicht nachdenken konnte, da sie zu schmerzhaft waren. Dinge, die zu qualvoll sind. Ich wollte versuchen, sie in Ordnung zu bringen, doch ich war dazu bislang nicht in der Lage.
»Wo kommt die
Weitere Kostenlose Bücher