Herbst - Stadt
hinzuvegetieren. Wie schon einige Male zuvor schloss Heath daraus, dass nur der Teil der Gehirne überlebt hatte, der die Urinstinkte beherbergte.
Mittlerweile jedoch setzte eine weitere Veränderung ein.
Erste Anzeichen waren Heath bereits vor ein paar Tagen, vielleicht sogar schon vor einer Woche aufgefallen. Die Leichname verhielten sich aggressiver als zuvor. Sie besaßen eine neue Entschlossenheit und Energie. Körperlich verfielen sie weiter, aber geistig hatten sie sich weiterentwickelt. Während er hinabblickte, brachen unten erneut Kämpfe zwischen einigen Kreaturen aus.
»Sehen Sie, was sie tun?«, fragte er leise.
Heath schaute auf und stellte fest, dass Yvonne gegangen war, was er nicht gehört hatte. Unbeirrt richtete er die Aufmerksamkeit wieder auf die Toten unter sich. Wo zuvor emotionslose Apathie geherrscht hatte, traten nun neue Energien in Form von Wut zutage. Seiner Vermutung zufolge waren die Toten zuvor nur deshalb auf Überlebende zugeströmt, weil es keine andere Ablenkung gab, nun jedoch fragte er sich, ob ein anderer Beweggrund dahinter stehen konnte. War es möglich, dass die Leichname, die sich rund um die Universität eingefunden hatten, nach Antworten von den Lebenden suchten oder ihnen die Schuld daran gaben, was geschehen war? Betrachteten die Leichen die Überlebenden als Feinde?
Während das Licht des Morgens heller wurde und immer mehr von der zernarbten Welt preisgab, wurden die Gedanken des Universitätsdozenten düsterer und trübsinniger. Er ertappte sich dabei, über den Schmerz nachzugrübeln, den die Gestalten unter ihm erleiden mussten. Immerhin verrotteten ihre Körper.
In seinem früheren Leben war Heath Dozent für englische Literatur gewesen. Er dachte häufig über die Emotionen der Protagonisten nach, die er studiert und über die er gelehrt hatte. Schmerz schien oft Hand in Hand mit einer Reihe anderer Empfindungen zu gehen. Auch an eigene schmerzliche Erfahrungen erinnerte er sich. Da er handwerklich nicht besonders geschickt war, hatte er sich schon des Öfteren mit einem Hammer auf den Daumen geschlagen, wenn er versucht hatte, ein Bild aufzuhängen; und an einem besonders ungünstig platzierten Ablagefach in seinem Büro hatte er sich regelmäßig den Kopf gestoßen. Seine erste Reaktion auf plötzlichen Schmerz war zumeist ein Fluch gewesen; manchmal schlug er auch gegen eine Wand oder schleuderte etwas vor Zorn von sich. Vielleicht war es das, was mit den durch die Straßen der Stadt schlurfenden Leichen geschah. Vielleicht stellte ihre zunehmende Gewaltbereitschaft eine direkte Reaktion auf ihr Leiden dar.
Der Gedankengang führte in immer dunklere Gefilde. Schließlich konnten die bisher beobachteten Aggressionen nur die ersten Anzeichen für weitere Veränderungen sein. Da die Verwesung und Zersetzung der Kadaver weiter voranschritt, würden sich logischerweise auch ihre Wut, ihr Hass und ihre Frustration rapide steigern. Wenn diese Emotionen tatsächlich in einem Zusammenhang mit Schmerz standen, würden die Dinge vermutlich noch wesentlich schlimmer werden, bevor sie sich besserten.
Und vor dem Gebäude mussten sich mittlerweile über zehntausend der Kreaturen befinden.
34
Der lange Tag schleppte sich unerträglich hin. Nach etlichen Stunden voll Argumenten, Gegenargumenten und Frustration verschlechterte sich die Stimmung im Versammlungssaal zunehmend. Am späten Nachmittag lagen die Nerven gefährlich blank.
»Habt ihr in letzter Zeit mal aus dem beschissenen Fenster geschaut?«, zischte Baxter wütend. »Wisst ihr, was da draußen ist?«
»Was wir vielleicht nicht übersehen sollten«, unterbrach Donna seinen Ausbruch, »wissen Sie, was wir hier drin noch haben? Wie es um unsere Vorräte bestellt ist? Ich sage, wenn wir nicht bald etwas unternehmen, halten wir nicht mehr lange durch.«
»Das stimmt«, pflichtete Cooper ihr von der anderen Seite des Raumes aus zu. »Hier zu bleiben, ist nicht mehr lange eine Lösung.«
»Und was genau wissen Sie?«, brüllte Nathan Holmes mit vor Emotionen heiserer, angespannter Stimme. Seit gut einer Stunde schien sich ein Großteil des Streitgesprächs gegen ihn persönlich zu richten. »Ich bin überzeugt davon, dass Sie wesentlich mehr wissen, als Sie zugeben. Ich wette sogar, Sie wissen haargenau, was die Ursache für diesen ganzen Mist war.«
»Ich wünsche, es wäre so«, seufzte der Soldat. »Dann hätte ich vielleicht wenigstens eine Ahnung, was zu tun wäre.«
Überall im Saal blickten von
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