Herbstbringer (German Edition)
können, um wirklich sicherzugehen. Doch ich wollte dich allein treffen.«
Das überraschte Emily. Es waren also tatsächlich keine anderen Vampire zugegen?
»Was habe ich dir getan? Was habe ich euch allen getan?« Eigentlich wollte Emily nur Zeit schinden, um zu überlegen, wie sie diese Neuigkeit zu ihrem Vorteil nutzen konnte.
»Immer hast du kleines, ach so unschuldiges Ding in meiner Vorstellung diese Frage gestellt. Und immer habe ich dir gesagt, dass du die größte Schande über uns gebracht hast, die man sich vorstellen kann. Du hast unsere Art entehrt, dich gegen das gestellt, für das ich seit Jahrhunderten kämpfe.« Seine Stimme erhob sich. »Du hättest uns fast dem Untergang preisgegeben, hast deine Familie entehrt und uns in einen ebenso sinnlosen wie endlosen Krieg gehüllt. Doch eigentlich sollte ich dir dankbar sein. Zuvor war deine Familie die stärkste unserer Welt. Deine Rebellion hat sie gestürzt. Die vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass niemand dem anderen überlegen ist. Wer dich jedoch endgültig vom Antlitz dieser verachtenswerten Welt tilgt, erringt die Vorherrschaft. So einfach ist das.«
Emily fand es ganz und gar unangebracht, derart lapidar über ihren Tod zu reden. Erzengel hin oder her, Michael nahm sich eindeutig zu viel heraus.
»Wie kann man nur auf etwas stolz sein, das auf Mord, Verrat und Intrigen aufgebaut ist?«
»Oh nein, Herbstbringer, du kannst mich nicht provozieren«, sagte Michael grimmig. »Das hättest du wohl gern – dass ich dich schnell und impulsiv töte. Aber nein. Du bist etwas Besonderes. Und für besondere Dinge nimmt man sich doch Zeit, oder? Das habe ich schon damals bei deiner Mutter beherzigt. Oh, wie sie sich gegen den Tod gewehrt hat. Doch am Ende hat selbst sie darum gebettelt.«
Ein kühler Hauch strich an ihrer Wange vorbei. Er liebkoste sie, schmiegte sich an sie wie ein zutrauliches Tier, als wolle er sie davon abhalten, durch diese verletzenden Worte die Beherrschung zu verlieren. Noch. Sie spürte, wie das welke Laub rings um sie zu zittern begann. Der würzige Geruch des Herbstes stieg ihr in die Nase. Ihr Geruch.
Der Herbstwind erwachte. Und da war noch etwas in der willkommenen Brise, die sie umgarnte. Etwas Vertrautes. Etwas voller Wärme und Liebe.
»Wahrlich«, höhnte er, »ich werde nie verstehen, wie man sich derart erniedrigen kann. Und weißt du was? Es ist mir egal. Weil ich dir deine verfluchte Existenz in wenigen Augenblicken derart schmerzhaft austreiben werde, dass du dir wünschen wirst, nicht so verflucht schwer zu töten zu sein. Du wirst dir wünschen, nie als Vampir geboren worden zu sein.«
Emily konnte nicht anders. Sie musste lachen. »Du hast wirklich gar nichts begriffen!« Sie kanalisierte die fauchende Wut in ihrem Inneren und riss sich von Michael los, der einen Augenblick lang erstaunt auf die Stelle starrte, an der sie gerade noch gekauert hatte.
Dieser Moment reichte Emily. Ohne zu wissen, warum sie es tat, riss sie die Arme hoch und schloss die Augen. Sofort schwoll ein Rauschen an, das sie in dieser Intensität noch nie vernommen hatte. Ein gewaltiger Wind kam auf, wirbelte das Friedhofslaub zu haushohen Säulen auf.
Michael beobachtete das Schauspiel verwirrt. Der Wind steigerte sich zu einem Heulen, stob durch Emilys Haare und zerrte an ihrer Kleidung. Der Erzengel musste sich gegen den Sturm stemmen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Das wird dir nichts nützen, Herbstbringer!«, rief er gegen den Wind an. Jetzt hob auch Michael die Arme und murmelte stumme Worte in den Wind.
Ein Fauchen zerriss die Welt, als der Kampf in der Luft ausgetragen wurde. Emily spürte, wie der Herbstwind an Kraft verlor, wie er von Michaels unsichtbarer Macht niedergerungen wurde. Schon fielen die Laubsäulen in sich zusammen, verflüchtigte sich das Geheul. Jetzt war es Emily, die zurückgedrängt wurde. Unsichtbare Klauen zerrten an ihr, versuchten, sie in alle Himmelsrichtungen gleichzeitig fortzureißen.
Dann war sie nicht mehr allein. Sie spürte eine tiefgreifende Wärme in sich, die sich von der Körpermitte ausbreitete und in jede Faser ihres Seins floss. Sie spürte die Gegenwart ihrer Mutter, die Seele, die sie beide über den Tod hinaus einte. Weil ihre Mutter sie geliebt hatte, war Emilys Seele verschont geblieben. Ein Vampir würde das niemals verstehen – und das war ihr Vorteil. Michael unterschätzte sie, wusste nicht, dass es die Macht ihrer Seele gewesen war, die den Fluch in
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