Herbstbringer (German Edition)
Schritt verharrte, enttäuscht darüber, frühzeitig bemerkt worden zu sein. Er lächelte. Selbst nach all den Jahrhunderten konnten sie nicht auf ihre kleinen Spielchen verzichten.
»Ja«, entgegnete Balthasar knapp und gesellte sich zu Michael.
»Wer weiß noch davon?«
»Ich habe den Jäger eingeweiht. Mehr wissen es nicht. Höchstens Vermutungen. Was die anderen Familien angeht, gilt wahrscheinlich dasselbe: unbestätigte Gerüchte, wilde Spekulationen.«
Michael zog eine sorgsam gezupfte Augenbraue hoch. »Wahrscheinlich?«, wiederholte er leise.
»Natürlich können wir nicht sicher sein, das weißt du besser als ich. Oder hätte ich deiner Meinung nach bei unseren Feinden klopfen und sie fragen sollen, was sie wissen?«
Michael schwieg. Er war des Redens schon lange überdrüssig geworden. Gezwungen locker schritt Balthasar zu der kleinen Bar am Ende des Raumes. Michael wusste, dass Balthasar es verabscheute, sich in seiner Gegenwart regelmäßig unterlegen zu fühlen. Auch heute entschädigte ihn ein erlesener Wein, den er aus den Tiefen der Bar holte.
»Ein 1988er Chianti«, bemerkte Michael vom Fenster. »Gute Wahl.«
»Also, wie gehen wir vor?«, fragte Balthasar besänftigt. Wie Michael wünschte er sich die Zeiten zurück, in denen die Nacht noch Dunkelheit und Angst gebracht hatte und nicht an jeder Straßenecke von Videokameras gezähmt wurde.
»Wir warten. Wie wir es immer getan haben. Man sollte meinen, dass es nach all den Jahren auf ein paar Wochen nicht ankommen würde …«
Erstmals wandte Michael den Blick vom Fenster ab. Immer hatte Balthasar bei dem strengen Gesicht des Oberhaupts das Gefühl, einer Statue gegenüberzustehen. Verhärtete, wie in Stein gemeißelte Züge ließen ihn zugleich unschätzbar alt und zeitlos jung wirken. Wenn auch nur so lange, bis man ihm in die Augen blickte. Wie tiefe Seen des Vergessens blickten sie in die Welt. Die Leere darin konnte nicht über die entsetzliche Macht hinwegtäuschen, die hinter ihnen schlummerte. In Sachen Charisma war Michael einer der wenigen, die Balthasar überflügeln konnten. Daran hatten auch seine silbergrauen Haare ihren Anteil, die erst hinter den dominanten Schläfen ansetzten. Dazu immer nur die edelsten Stoffe und hochkarätige Manschettenknöpfe. Im Gegensatz zu Balthasars Faible für die inzwischen altmodischen, schweren Mäntel ging Michael in Modefragen gern auf Augenhöhe mit den teuersten und elegantesten Designern. Es brachte Abwechslung. Und im Angesicht der Unsterblichkeit sollte man Abwechslung nicht unterschätzen.
Michael schritt durch den hohen Raum. »All die Jahre der Verbannung … all die grausamen Kämpfe … all die Opfer … und weswegen? Wegen eines schlecht erzogenen kleinen Mädchens.« Er schnaubte verächtlich.
»Nun, das ist wohl etwas untertrieben, oder? Sie hat unsere Welt in einen Krieg gestürzt, der seit fast zwei Jahrhunderten andauert. Da hat wohl etwas mehr als schlechte Erziehung eine Rolle gespielt.«
»So, glaubst du? Glaubst du auch, dass alles so gekommen wäre, wenn sie meine Tochter gewesen wäre? Glaubst du, ich hätte ihre Rebellion geduldet?« Blicke wie Nadeln durchbohrten Balthasar. »Glaubst du, wir müssten uns heute vor der Welt verstecken wie Ungeziefer, weil wir durch ihre Schande dazu gezwungen wurden, unsere Schlachten unter den Menschen auszutragen? Glaubst du das?« Die letzten Worte brüllte er Balthasar ins Gesicht.
»Nein, natürlich nicht. Aber sie hat irgendetwas an sich. Anders hätte sie es niemals geschafft, sich von ihresgleichen loszusagen.«
»Unfug! Ich glaube nicht an diese haarsträubenden Legenden. Sie war störrisch, sonst nichts. Deshalb konnte ihr auch unser Fluch nichts anhaben. Und alles nur, um ein Mensch zu werden. Ein Mensch! Die Welt wird es noch bereuen, uns in diese erniedrigende Lage gebracht zu haben. Wenn wir den Herbstbringer erst in unserer Gewalt haben, wird sich die Menschheit wünschen, schon viel früher untergegangen zu sein.«
Zynisch erhob Balthasar sein Weinglas. »Cheers.«
»Du bist verantwortlich dafür, dass die anderen sie nicht vor uns zu fassen kriegen. Sei bereit. Hast du das verstanden? Du weißt, was der Fluch bewirkt. Sie wird nicht lange unerkannt bleiben. Die Welt welkt unter ihren Schritten …«
»Ja«, beeilte er sich zu versichern. Dabei hasste er Befehle. »Aber wieso können wir sie nicht einfach …«
»… jetzt schon aufspüren?«, vollendete Michael den Satz. »Wenn es einen Weg gäbe, die Regeln
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