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Herbstbringer (German Edition)

Herbstbringer (German Edition)

Titel: Herbstbringer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Björn Springorum
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Unwohlsein auf das viele Popcorn schieben wollte, ließ ein plötzlicher Szenenwechsel alle Farbe aus ihrem Gesicht weichen. Mit einem unheilvollen Grinsen beugte sich der Graf über eine wunderschöne Frau in einem langen weißen Nachthemd, und wie aus dem Nichts blitzten zwei lange Zähne im Mund des Grafen auf.
    »Nein!«, schrie Emily und sprang auf. Diesmal ging es nicht in der typischen Geräuschkulisse eines vollen Kinosaals unter. Köpfe drehten sich irritiert zu dem schreienden Mädchen um.
    »Psst! Hinsetzen!«, rief jemand aus den hinteren Reihen.
    »Ist alles okay? Sollen wir rausgehen?« Jake blickte besorgt zu Emily auf, die schwer atmend auf die Leinwand starrte.
    Sie reagierte nicht. Mit zitternder Unterlippe, die Hände zu Fäusten verkrampft, starrte sie auf Graf Dracula, wie er den leblosen Körper der Frau mit triumphierendem Gelächter zurück aufs Bett fallen ließ. Dann begann sie leise zu wimmern.
    »Nicht schon wieder!«, zischte Sophie.
    »Was hast du getan? Du verdammtes Tier, du hast sie gegen ihren Willen gebissen. Sie wollte es nicht! Sie wollte es nicht!«, schrie Emily.
    Mittlerweile hatte der gesamte Saal begriffen, dass hier etwas nicht stimmte. Belustigtes Kichern war zu vernehmen, als einige Schüler erkannten, wer da die Leinwand anbrüllte.
    »Hey, ist das nicht die Verrückte aus dem Geschichtsunterricht?«, gehörte noch zu den harmlosen Kommentaren, die man sich über viele Reihen hinweg zurief. Der Film war längst zur Nebensache geworden.
    »Sie wollte es nicht!«, schrie Emily immer und immer wieder. Dann stürmte sie aus dem Saal.



3
    Blutrot versank die Sonne über der Stadt. Die bleiche Kuppel der St Paul’s Cathedral erstrahlte in einem goldenen Schein, der sich auch über die nahe gelegene Themse ergoss. Es schien, als stünde der Fluss in Flammen.
    Michael blickte aus dem Fenster eines alten Stadtanwesens auf die neumodischen Hochhäuser. Ein Single-Malt-Whiskey zirkulierte träge in seinem Glas. Früher hatte er London geliebt.
    Unzählige Erinnerungen verbanden ihn mit dieser Stadt. Hier die breite Treppe vor St Pauls , blutüberströmt und übersät mit toten Priestern. Dort das mit seiner finanziellen Hilfe erbaute und mittlerweile an einem anderen Standort wiedererrichtete Globe Theatre , einst Schauplatz der verruchtesten Aftershowpartys von ganz London. Er war überzeugt davon, dass Shakespeare ihm mit der Rolle des gewissenlosen Iago in Othello ein Denkmal gesetzt hatte. An wem sollte man sich sonst orientieren, wenn man einen seelenlosen Bösewicht brauchte? Verdient hätte er es allemal. Oh, oder das verheerende Feuer von 1666, das sich nicht zuletzt durch sein Mitwirken rasend schnell in der Stadt ausgebreitet hatte. Die Schreie und das erbarmungslose Prasseln der Flammen klangen wie Musik in seinen Ohren nach.
    Wohin er auch sah … es gab kaum ein Fleckchen, an dem er nicht seinem Trieb nachgegangen war. Doch jetzt, nach über siebenhundert Jahren, langweilte ihn London.
    Und dass er ganz genau wusste, woran es lag, machte es nur schlimmer. Die Sonne war untergegangen. Und dennoch konnte er, einer der vier Ersten, nur an diesem Fenster stehen und die Stadt betrachten. Es widerte ihn an.
    »Ich sollte auf der Jagd sein!«, zischte er und schmetterte sein Glas zu Boden. Klirrend zerbrach es auf den Marmorfliesen.
    »Sir?«
    »Wie viele sind es heute, Radcliffe?« Michael ließ sich nichts anmerken, als der Diener die Glasscherben unauffällig verschwinden ließ.
    »Vier, Sir. Soll ich sie hochschicken lassen?«
    »Nicht nötig. Ich komme gleich herunter.«
    »Sehr wohl, Sir. Ich werde alles vorbereiten.«
    »Gut. Schicke Balthasar unverzüglich zu mir herauf. Er wird das Gebäude gleich betreten.«
    Sein Blick wanderte über Häuser, wo früher Schweineställe gestanden hatten, über leere Plätze, wo noch vor zwei Jahrhunderten öffentliche Hinrichtungen die Massen begeistert hatten. Und dann diese vielen Brücken. An ihnen hatte man immer am besten ablesen können, wie rasch dieser Moloch sein Aussehen verändert hatte. Kaum war man mal für ein Jahrhundert außer Landes, musste man bei seiner Rückkehr feststellen, dass die eine Hälfte der Übergänge über die Themse abgerissen oder abgebrannt, die andere Hälfte versetzt worden war. Michael musste die Stadt regelmäßig neu kennenlernen.
    »Bringst du die Kunde, die ich erwarte?« Michael stand noch immer mit dem Rücken zur Tür, als eine Gestalt lautlos in den Raum glitt. Er spürte, wie sie im

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