Herbstbringer (German Edition)
nicht. Es hatte gute Gründe dafür gegeben, viele Tausende Kilometer Entfernung und mindestens einen Ozean zwischen sich zu haben. Besser gesagt: Es gab sie immer noch.
Nicht, dass er sich seiner Überlegenheit nicht gewiss gewesen wäre. Wer sollte ihm auch bei der Jagd zuvorkommen?
Gabriel vielleicht, der seinen Ruf in den letzten Jahrzehnten immer weiter beschmutzt hatte und dessen Familie im Mittleren Osten mittlerweile dafür bekannt war, ihr Verlangen an Tieren zu stillen?
Oder doch eher Raphael, diese füllige Karikatur eines Vampirs, ein fanatischer Sammler von Star-Wars-Modellen, der in Amerika seit endlosen Jahren für eine Annäherung von Vampiren und Menschen kämpfte?
Uriel hingegen erwies sich wenigstens als ehrbarer Vampir von erstaunlicher Grausamkeit, der die Traditionen und Regeln ihrer Art heiligte und im Mittelalter ganze Landstriche im Alleingang entvölkert hatte. Wäre da nicht die Schande, dass der Herbstbringer aus seiner Familie hervorgegangen war. Einen wirklichen Gegner sah Michael in dem silberhaarigen Vampir mit den schwarzen Augen infolgedessen nicht.
Für ihn waren sie alle nur noch Schatten ihrer einstigen Größe, als sie in den vier Ecken der Welt Wacht gehalten und ihre Seelen für die Herrschaft über diesen Planeten gegeben hatten.
Doch das Gefühl, den anderen nicht länger voraus zu sein, war nicht alles. Erstmals beschlich ihn das Gefühl, den Herbstbringer zu unterschätzen. Gewiss machte bereits die Fähigkeit des Mädchens, sich gegen ihre eigene Art gestellt zu haben und nicht unter der Gewalt dieser unaussprechlichen Tat zugrunde gegangen zu sein, deutlich, dass sie es hier nicht mit einer machtlosen Gegnerin zu tun hatten. Michael wäre dennoch nie auf die Idee gekommen, das Mädchen zu fürchten oder nicht länger von seiner eigenen Überlegenheit überzeugt zu sein.
Und jetzt hatte ihm das Orakel genau das verkündet. Was hatte das nur zu bedeuten?
Er weigerte sich weiterhin hartnäckig, den Fluch als Ursache ihrer angeblich übersinnlichen Stärke zu sehen. Natürlich existierte der Fluch – er selbst hatte ihn ausgesprochen. Mit Stärke hatte diese Bürde nichts zu tun, da war sich Michael sicher. Die Kräfte des Mädchens mussten eine andere Ursache haben. Aber welche? Wie konnte sie sich diesen Fluch zunutze gemacht haben? Es ergab keinen Sinn.
Pünktlich auf die Minute traf er am vereinbarten Treffpunkt ein. Missmutig begutachtete er ein pseudonostalgisches Pub-Schild, das die schon von außen nach schalem Bier und Erfolglosigkeit stinkende Örtlichkeit als The Hanged Hangman auswies. Michael konnte nur den Kopf schütteln, zwang sich zu Gelassenheit und betrat die Kneipe am Themseufer mit einem resignierten Seufzer.
»Was findest du nur an diesen Rattenlöchern?« Angewidert setzte er sich zu Balthasar an einen dieser niedrigen runden Tische, die viel zu klein zum Sitzen und per Gesetz voller abgestandener Bierlachen und Erdnusskrümel sind.
»Atmosphäre.« Wie immer stand ein Rotweinglas vor Balthasar. »Man kennt eine Stadt nur, wenn man in all ihren Pubs getrunken hat«, erklärte er in bester Monologstimme. »Und außerdem kann ich ja nicht immer bei dir aufkreuzen, wenn ich einen guten Wein trinken will.«
Michael ließ den Blick durch das verrauchte Innere schweifen. Nicht das erste Mal fragte er sich, wie sich ein guter Wein bloß hinter diese Theke verirrt haben konnte. Es beschmutzte die Weinkultur.
»Ich war beim Orakel«, sagte er, um zum eigentlichen Grund seines unfreiwilligen Kneipenbesuchs zu kommen.
»Ich weiß.«
Oh, wie er Balthasars Zwischenbemerkungen hasste. »Natürlich weißt du es«, erwiderte er betont ruhig. »Selbst du weißt, dass das Orakel nur in der Vollmond-Woche Audienz gewährt. Die anderen drei wissen längst Bescheid. Kannst du mir erklären, wie diese Versager an solch eine brisante Information kommen konnten?«
Dass das Orakel in Sorge gewesen war und den Herbstbringer sogar fürchtete, hielt er bewusst zurück. Er musste sich erst selbst vergewissern, was der Grund für diese Sorge war, bevor er diese wertvolle Information unüberlegt weitergab. Wenn er sie überhaupt weitergeben würde. Nur weil man derselben Familie angehörte, durfte man sein Vertrauen nicht leichtfertig vergeben. Michael wusste, dass ihn nur diese Einstellung so lange an der Spitze stehen ließ.
»Und woher, denkst du, sollte ich das wissen? Spione, Überläufer, Glück … such dir was aus. Du solltest froh sein, dass auch wir es
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