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Herbstbringer (German Edition)

Herbstbringer (German Edition)

Titel: Herbstbringer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Björn Springorum
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In dem Moment, in dem er das junge Mädchen das erste Mal in der Bibliothek gesehen hatte, hatte er gewusst, dass er etwas wirklich Großem auf der Spur war. Es hatte ihn nicht viel Zeit gekostet, den Zeitungsartikel mit ihrem Porträt hervorzukramen, er wusste aber, dass dies noch nicht ausreichen würde, um damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Zumindest nicht, wenn er einer weiteren Bloßstellung entgehen wollte.
    Nach seinem traditionellen freien Tag in London stieg er Sonntagmittag am Bahnhof King’s Cross in den Zug, wie immer am Beginn einer neuen Reise voller freudiger Erwartung. Unmittelbar vor der Abfahrt huschte eine Person in denselben Waggon.
    Ohne es zu merken, war der Jäger zum Gejagten geworden.

    Man konnte mit einer Lupe auf das Bild starren, bis die Augen anfingen zu tränen: Das junge Mädchen auf dem alten Foto dachte immer noch nicht daran, endlich nicht mehr wie Emily auszusehen.
    Genau genommen hatte die Lupe es noch schlimmer gemacht: Mit einer detektivischen Präzision, die nur seinem Opa zu verdanken sein konnte, hatte Jake einen kleinen Leberfleck auf dem gemalten Kinn ausgemacht, der bei Emily an der gleichen Stelle zu finden war.
    »Verflucht«, schimpfte Emily leidenschaftlich.
    Jake pflichtete ihr bei. »Ziemlich komischer Zufall, oder?«
    »Kann man wohl laut sagen. Zu komisch.« Sie seufzte und ließ sich rückwärts auf das Bett fallen. Ihr war das alles entschieden zu viel.
    »Was weiß dein Großvater über Vampire?«, fragte sie mit geschlossenen Augen. Jake zündete einige Kerzen an und legte sich neben sie. Draußen war es längst dunkel geworden, drinnen zeichnete die Musik ähnlich trübe Bilder.
    »So einiges«, begann er. Wie Emily war auch er verunsichert und hilflos. »Da wäre erst mal seine Theorie, dass richtige Vampire denen aus Filmen und Büchern überhaupt nicht ähneln müssen. Zum Beispiel was die Zähne und das Leben in der Nacht angeht. Außerdem glaubt er, herausgefunden zu haben, dass richtige Vampire nicht unbedingt tot oder untot sein müssen. Sie sind einfach Vampire und keine aus Gräbern entstiegenen Leichen.«
    »Ermutigend«, bemerkte Emily trocken. »Und was ist mit Blut? Dracula war ganz verrückt danach.«
    »Ja, da ist sich mein Opa relativ sicher. Kein Zweifel: Sie sind verrückt nach Blut. Äh, wie sieht es denn da bei dir aus?«
    »Nein danke!«, grummelte Emily. »Ich esse ja nicht mal Fleisch.«
    »Also, von einem Vegetariervampir hat Großvater noch nie etwas erzählt. Wäre eine ziemliche Sensation.«
    Emily schmunzelte. Sie beugte sich auf die Seite. Ihre Beine berührten sich leicht. »Ich sollte noch mal versuchen, etwas über meine Vergangenheit rauszufinden, meinst du nicht?«
    »Puh«, machte Jake. »Wie wäre es, wenn wir morgen früh zu deinem Waisenhaus fahren und uns da umhören? Vielleicht wissen die Leute dort ja irgendwas.«
    »Wir?«, fragte sie.
    Einen endlosen Moment lang blickte Jake in die dunklen Augen dieses Mädchens, das erst vor Kurzem in sein Leben getreten war und es schon jetzt gänzlich bestimmte.
    »Wir. Ich würde alles tun, was nötig ist, um dir zu helfen und bei dir sein zu können«, sagte er leise.
    Dann, langsam, ganz langsam, beugte Jake sich vor. Seine Lippen näherten sich Emilys, die in atemloser Stille erstarrt war. Ihr Herz pochte, als würde es um sein Leben laufen.
    Sie küssten sich.
    Die Zeit schien stillzustehen.
    Es war ein schüchterner Kuss. Es war ein unbeholfener Kuss. Es war ein kurzer Kuss, und es war der konkurrenzlos schönste Moment in Emilys Leben.
    Die schwermütige Musik legte sich wie eine Decke über die beiden. Der richtige Song im richtigen Moment ist etwas Magisches, hatte Jake ihr bei ihrem ersten Treffen vor dem Kino gesagt. Damals wusste sie nicht, was er damit gemeint hatte. In diesem Moment waren ihr seine Worte so klar wie selten etwas zuvor.
    Die Magie der Musik trieb ihr Tränen in die Augen. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, ihre Gefühlswelt in einem Song gespiegelt zu sehen. Und doch sagte dieser alles, was es zu sagen gab.

    Irgendwann, Emily musste kurz eingenickt sein, drang das fahle Licht des Morgens durch das Fenster herein. Ein wohliger Schauer überlief sie, als sie an eine Stelle aus Romeo und Julia denken musste. Es war die Nachtigall, und nicht die Lerche, die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang. 1
    »Also war es kein Traum«, hörte sie Jakes Stimme neben sich, während sie versunken in die Dämmerung blickte. »Ich hatte wirklich Angst,

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