Herbstbringer (German Edition)
mir, dachte ich mir. Völlig klar, dass du weißt, wie du an einem regnerischen Tag Ende August splitternackt und völlig durchnässt am Ufer des kleinen Flusses gefunden wurdest, an den wir im Sommer immer zum Schwimmen fahren.«
Emily nickte wie in Trance. Beging Schwester Mary da etwa gerade einen Regelverstoß?
»Gott weiß, wie lange du da draußen in der Kälte gelegen hast, halb vergraben unter matschiger Erde und bewusstlos. Ein Wunder, dass du überhaupt überlebt hast! Ein Bauer und seine Frau brachten dich zu uns. Sie hatten dich in einen Kartoffelsack gesteckt und mitten in der Nacht zu uns gebracht. Sie erzählten, dass sie beide in der Nacht von einem schrecklichen Heulen geweckt worden waren, das eindeutig aus Richtung des Flusses gekommen war. Zunächst hat nur der Bauer die Umgebung abgesucht und am Fluss ein davoneilendes Tier gesehen. Er schwört noch heute darauf, Gott möge ihm gnädig sein, dass es zu groß für einen Fuchs und das Geheule zu wild für einen Hund war. Wie er das alles im Dunkeln erkennen konnte, ist mir zwar schleierhaft, aber er beharrt darauf, in dieser Nacht einen Wolf gesehen zu haben. Hier, in dieser Gegend! Wahrscheinlich können wir uns glücklich schätzen, dass er angeblich einen Wolf gesehen hat, denn immerhin ist er nur deswegen bis ans Ufer des Flusses gekommen, um zu schauen, ob der Wolf vielleicht eines seiner Tiere gerissen hat. Ja, und dann hat er dich gefunden. Oh, und ihm war aufgefallen, dass es ungewöhnlich stürmisch war in dieser Nacht. Aus irgendeinem Grund schien es ihm wichtig, das zu erwähnen.«
Wenig später verließ Emily an Jakes Seite das Waisenhaus. Nachdem Jake eine Zeit lang schweigend neben Emily über das waldige Grundstück gelaufen war, zog er sie sanft zu einer nahen Parkbank.
»Willst du mir nicht erzählen, wie es gelaufen ist? Ansonsten könnte ich dir auch erzählen, wie ich von zwei kleinen Mädchen beobachtet wurde, als wäre ich ein Geist.«
Sie lächelte schwach und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Natürlich. Ich brauche nur eine kurze Pause.«
Sie zwang sich dazu, ruhig zu atmen und über Schwester Marys Enthüllungen nachzudenken. Dann weihte sie Jake ein.
»Nackt?« Das war sein erster, ungläubiger Kommentar.
»Dasselbe habe ich auch gedacht.«
Erneut lief ihr ein Schauer über den Rücken. Was um alles in der Welt war an diesem Fluss passiert?
»Aber dir hat niemand etwas getan, oder?«
»Nein, ich denke nicht. Die Ärzte fanden keine Verletzungen oder sonstige Spuren an mir. Einer unserer Psychologen hielt es sogar für wahrscheinlich, dass ich schlafgewandelt und dann das glitschige Ufer heruntergerutscht bin. So wollte er auch meinen Gedächtnisverlust begründen.«
Jake schüttelte den Kopf. »So ein Schwachsinn. Ich meine, wie weit sollst du denn schlafgewandelt sein, dass dich nie jemand vermisst hat?«
Emily zuckte mit den Schultern. Sie war bitter enttäuscht. Die Vorstellung, endlich Antworten zu erhalten, war einfach zu verlockend gewesen.
»Hat diese Schwester sonst nichts erzählt? Irgendwas Hilfreiches zur Abwechslung?«, fragte Jake. Dieser Ort deprimierte ihn. Weit schlimmer war für ihn allerdings der Schmerz, den er in Emilys Zügen sah.
»Nein, sie durfte nicht. Die Akten werden von Heimleiter Abtree verwaltet, der heute blöderweise nicht da ist. Ich bin aber auch selbst schuld. Ich hätte anrufen sollen, bevor wir uns stundenlang in diesen stickigen Bussen gequält haben.«
»Du konntest ja nicht wissen, dass dieser Abtree so was wie der Hüter der Akten ist.« Er hielt inne. »Wo ist sein Büro eigentlich?«, fragte er dann.
»Hinter dem Haus. Das mit dem schönen Erker. Wieso?«
»Nur so«, murmelte er und machte eine wegwerfende Handbewegung. Bevor Emily etwas entgegnen konnte, näherte sich die imposante Gestalt Schwester Marys.
»Ich sehe mich ein bisschen um, okay? Ich habe ehrlich gesagt Angst vor dieser Schwester«, sagte Jake.
»Geh nur.« Sie rang sich ein halbherziges Lächeln ab. »Ich werde schon allein mit ihr fertig.«
Die Bibliothek hatte noch geschlossen, als Barnard Graham früh am nächsten Morgen die bemoosten Stufen hinaufstieg. Wenig später bog sein alter Kollege um die Ecke und ließ ihn in die ausgekühlten Räume.
»Die Bücher, die du dir gestern angesehen hast – sind die derzeit vielleicht besonders gefragt?«, erkundigte sich der Bibliothekar, während er die schummrige Deckenbeleuchtung einschaltete und die altersschwache Heizung mit
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