Herbstbringer (German Edition)
dir?«
»Ich bin gut damit klargekommen. Glaube ich. Die Schwestern waren sehr herzlich zu mir, obwohl ich sie und die anderen Waisenkinder meistens gemieden habe. Aus irgendeinem Grund hatte ich viel mehr Freiraum als alle anderen Heimkinder, musste an vielen Ausflügen nicht teilnehmen und durfte immer die Bücher lesen, die ich wollte. Ich glaube, sie haben gehofft und sogar gebetet, dass ich mich irgendwann wieder erinnern würde. Bislang vergeblich.«
»Bislang«, betonte Jake. Er nahm ihre Hand. »Auch wenn wir heute erfolglos sein sollten, werden wir weitersuchen. Versprochen. Und wenn wir dafür bis nach Transsylvanien fahren müssen.«
Es war fast Mittag, als Emily und Jake die Endstation erreicht hatten. Den Rest des Weges legten sie zu Fuß zurück. Eine gute halbe Stunde später passierten sie das gusseiserne Tor des Waisenhauses. Es fühlte sich an, als wäre eine halbe Ewigkeit vergangen, seit sie von den Lancehearts abgeholt worden war.
Nachdem sie eine bewaldete Anhöhe überquert hatten, sahen sie das malerisch gelegene Gebäude vor sich. Um das Sheltering Tree herum waren jede Menge hoher Bäume gepflanzt, die dem Waisenhaus seinen Namen gaben. Was nicht verhindern konnte, dass eine bedrückende Aura von dem in die Jahre gekommenen Bau ausging.
»Seltsam«, bemerkte Jake erstaunt. »Hier sind die Bäume noch viel grüner als bei uns.«
»Hmm«, machte Emily geistesabwesend. Jetzt, da sie hier war, verlor ihr Vorhaben erheblich an Reiz. Wie würde es sein, dieses Gebäude wieder zu betreten? Wieder durch die Flure zu laufen, die sie noch vor Kurzem in der Gewissheit beschritten hatte, viele Jahre an diesem Ort bleiben zu müssen? Unsicherheit überflutete sie und brachte sie fast dazu, kehrtzumachen.
»Na komm.« Jake nahm ihre Hand. »Wir schaffen das schon.«
Kurz vor dem Eingang blieb Emily plötzlich stehen. »Ich glaube, ich erinnere mich an etwas!«, rief sie aufgeregt. »Ich habe das Gefühl, dass ich irgendwann mal durch diese Tür getragen worden bin. Und nachdem ich hier das erste Mal aufgewacht bin, ist das definitiv nicht passiert.«
»Na, wenn das kein gutes Omen ist.«
Hand in Hand betraten sie das Waisenhaus.
5
Wie ein Schemen in der Dämmerung verließ Michael das Monument . Aufmerksamen Beobachtern wäre der leichte Anflug von Verunsicherung aufgefallen, der wie ein Schatten über die ansonsten beherrschten und strengen Gesichtszüge des Vampirs huschte. Aufmerksame Beobachter von Michaels Gesichtszügen lebten allerdings für gewöhnlich nicht lang genug, um diese Entdeckung weiterzugeben.
Selten verirrte sich eine solche Emotion in die Miene des Oberhaupts eines der vier ersten Vampirclans. Dazu war keine Schauspielerei nötig: Es gab schlicht und ergreifend nichts, was Michael aus der Ruhe bringen oder gar einschüchtern konnte.
Zumindest bis gerade eben.
Der Besuch im verborgenen Kellergewölbe des Denkmals war nicht wie geplant verlaufen.
… Sie wird mehr bringen als den Herbst … Sie trägt etwas in sich, auf das du nicht gefasst bist … Niemand ist das … Sie zu unterschätzen ist ein Wagnis, das du dir gut überlegen solltest … Überwinde deinen Stolz, so wie sie sich selbst überwunden hat. Lass den Engel hinter dir zurück …
Die Worte des Wesens, das ihm sein Leben verdankte, hallten in Michaels Gedanken nach wie dumpfe Kopfschmerzen. Das Orakel musste sich geirrt haben. Ganz gleich, ob das in den Jahrtausenden zuvor noch nie passiert war. Ungehalten zischte er einige Laute einer alten Sprache. Dann tauchte er in Londons dunkelnden Straßen unter.
Vergeblich versuchte er, das Ergebnis der Unterredung herunterzuspielen. Es nützte nichts. Er wusste, dass das Orakel niemals irrte. Seit er es im Jahre 391 vor christlichen Hetzern gerettet und aus Delphi fortgebracht hatte, hatte es noch keine einzige Unwahrheit ausgesprochen.
Er hatte gehofft, nein, er war überzeugt gewesen, von ihr die Unwissenheit der anderen Familien bestätigt zu bekommen. In diesem Fall hätte er das Orakel mit einer Opfergabe seines eigenen Blutes dazu bewogen, etwas über die Identität der Verräterin preiszugeben. Als überlegenes Clanoberhaupt hätte er ein naturgegebenes Anrecht auf diese Information gehabt.
Stattdessen blieb ihm die Enthüllung, dass mittlerweile alle Oberhäupter von der Wiederkehr des Herbstbringers wussten und dabei waren, entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Nicht mehr lange, und sie würden nach England zurückkehren. Michael gefiel das gar
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