Herbstbringer (German Edition)
ihrem Weg in dieses erbärmliche Kaff war ihm aufgefallen, dass der Herbst die Landschaft mehr und mehr unter seine Herrschaft gezwängt hatte. Hier in Woods End war kaum mehr ein grünes Blatt an den Bäumen, eine dicke Schicht toten Laubs bedeckte weite Teile der Wiesen und Plätze. Als wäre alles Leben vor diesen beiden Gestalten geflohen.
Und dann dieser säuselnde Wind. Ja, es gab keinen Zweifel: Sie hatten das Nest des Herbstbringers gefunden.
Die Spur des Mädchens zog sich als herbstlicher Hauch durch das Land und war in Richtung Woods End zunehmend stärker geworden. Nur deshalb duldete er Aaron an seiner Seite. Er war der beste Jäger, den er kannte, fähig sogar, die Spur des Herbstbringers als kaum erkennbare Nuance in einem Kosmos ungezählter Gerüche wahrzunehmen. Doch in Woods End musste sich sogar Aaron geschlagen geben. »Nein, keine Chance. Da hätte man meine Nase genauso gut in Blut tauchen können. Der Herbst gibt seine Geheimnisse nicht preis. Als wolle er sie schützen.« Er hielt inne. »Seltsam«, sagte er leise. »Wenn das mal nicht …« Dann verstummte er abrupt.
»Wenn das mal nicht was? Was witterst du?«
Aaron winkte ab. »Nichts, ich dachte nur, eine besonders frische Fährte ausgemacht zu haben. Hab mich wohl getäuscht.«
»Hm«, brummte Balthasar wenig überzeugt. Aaron täuschte sich eigentlich nie.
Aaron blickte ihn zornig an. »Verdammt, es ist unmöglich, hier eine neue Fährte aufzunehmen. Vielleicht willst du es ja mal versuchen?«
»Gemach, gemach. Was schlägst du vor?«
»Dass du die Klappe hältst und mich weiter meine Arbeit machen lässt«, knurrte er.
Balthasar lächelte nur. Diese Bemerkung würde ihm noch leidtun. Doch das musste warten: Er brauchte Aaron noch. Bis er das Mädchen hatte. Er durfte sie zwar weder töten noch entführen. Dagegen, dass er ihr einen Bluthund an die Fersen heftete, sprach sich der Kodex nicht aus. Sollte er etwa still herumsitzen und darauf hoffen, dass der Herbstbringer ihm direkt in die Arme lief, wie Michael es tat?
»Das Miststück ist nicht hier«, raunte Aaron.
»Nicht hier? Bist du dir sicher?«
»Todsicher.«
»Okay. Ich denke nicht, dass wir uns die Mühe machen müssen, die Bibliothek nach Hinweisen auf ihr Zuhause zu durchstöbern. Nach Schreibtischarbeit steht mir heute Nacht nicht der Sinn.«
»Und mir nicht nach Büchern. Schlimm genug, dass ich diesem Bücherwurm im Norden nachspüren musste. Diese Bibliothek war noch trostloser als dieses Kaff hier.«
»Also, wo ist sie? Kannst du das sagen?«
»Zwei eindeutige Fährten führen aus Woods End hinaus. Die eine Richtung Norden, die andere Richtung Westen.« Er schloss die Augen und hob die Nase einige Sekunden in die Nacht. »Sieht ganz so aus, als wäre das Gör in Richtung London unterwegs gewesen.«
»London? Da ist sie womöglich immer noch!«
»Möglich. Diese Fährte ist jedenfalls die frischste. Sie sind beide sehr schwach, nur eine Ahnung. Aber ich bin mir sicher.«
»Ich werde mit dem Wagen nach London zurückkehren. Michael will mich sowieso sprechen. Du siehst zu, was du im Westen findest. Vergiss dabei nie, dass wir uns ihr weder zeigen noch dem Mädchen oder ihrer Familie etwas antun dürfen, wenn wir den Fluch nicht auf uns ziehen wollen.« Balthasar hatte Aaron dieses Gebot bereits dutzendfach eingebläut. »Wir können erst zuschlagen, wenn sie sich zu erkennen gibt.«
Ohne ein weiteres Wort verschmolz er mit der Nacht.
»Spielverderber«, murmelte Aaron, als Balthasar verschwunden war. Dann wandte er sich mit neuem Eifer der Spurensuche zu. Er war sich sicher: Unter dem aufdringlichen Odem der Vergänglichkeit, der den Herbstbringer umschwirrte, spürte er eindeutig etwas anderes, Schwärzeres, Böseres.
Sie waren nicht die ersten Vampire gewesen, die Woods End aufgesucht hatten. Es waren keine Angehörigen der oberen vier Clans gewesen, eher Vampire niederen Rangs oder gar Untote. Aber was sie auch waren: Es war höchstens ein paar Jahre her, dass sie in Woods End gewesen waren.
Bislang hatte Emily die Stimme in ihrem Kopf, die sie daran hindern wollte, diesem Wildfremden zu folgen, genauso erfolgreich ignoriert wie das Bild von Jake, das in ihrem Kopf herumspukte. Sie wusste selbst nicht, wie sie das anstellte. Alte Treppenhäuser folgten auf dunkle Flure und verlassene Räume, während die monoton wummernde Musik stetig leiser wurde und schließlich ganz verstummte.
Alles um sie herum wirkte verfallen. Decken waren eingebrochen,
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