Herbstbringer (German Edition)
Türen hingen in den Angeln, den meisten Fenstern in den links des Flurs abgehenden Räumen fehlten die Scheiben. Der Boden war übersät von Laub, das auch jetzt durch die Fenster hereingeweht wurde. Stellenweise liefen sie über einen regelrechten Teppich aus vermoderten Blättern, über allem hing der würzige Geruch sterbender Bäume.
Elias schritt wortlos voran. Immer wieder war Emily versucht, stehen zu bleiben und ihn zur Rede zu stellen. Doch die beklemmende Stimmung dieser totenstillen Geisterwelt hinderte sie daran.
Unverhofft traten sie nach einer weiteren Biegung ins Freie. Verwirrt blickte Emily sich um. Das rostrote Steingebäude, das sich hinter ihr in den Nachthimmel erhob, war ein völlig anderes als der Bau, den sie kurz zuvor betreten hatte. Dunkle Fensteröffnungen blickten stumm auf sie herab. Schwach reflektierten sie das Licht des Mondes und schienen mit ihrer Anwesenheit nicht glücklich zu sein.
»Wo sind wir?«, fragte Emily bemüht ruhig. Der Wind hatte aufgefrischt und heulte durch zersplitterte Fenster und offene Türen. Sie zitterte.
War das die dümmste Idee ihres Lebens gewesen?
»In Sicherheit.« Er reichte ihr seine Jacke. »Es ist kühl.«
Wortlos nahm Emily die Jacke entgegen, während er eine Laterne entzündete, die neben der Tür an der Wand befestigt war. Das Licht wirkte beruhigend und konnte die herankriechende Dunkelheit zumindest ein wenig im Zaum halten. Sie befanden sich in einem großen Innenhof, der von allen Seiten von hohen, alten und heruntergekommenen Gebäuden flankiert war.
An der gegenüberliegenden, fensterlosen Wand konnte Emily vage einen Tunnel ausmachen. Sie erkannte ihn nur, weil die halbrunde Öffnung noch dunkler war als der Rest der Wand.
»Ein Teil des alten U-Bahn-Netzes«, erklärte Elias. »Dieser Tunnel führt tief in die Stadt hinein, die Strecke ist aber seit Jahren stillgelegt. Vor etwa hundert Jahren hat man hier kaputte Züge gelagert – eine Art Friedhof, könnte man sagen. Auch das Gebäude, das wir gerade durchquert haben, steht seit Jahrzehnten leer, wenn nicht länger. Kaum einer weiß also von diesem Weg.« Er hielt kurz inne. »Oh, das dürfte jetzt wohl nicht gerade dazu beigetragen haben, dass es dir besser geht, oder?«
Sie lächelte und schüttelte den Kopf. Die Art, wie er mit ihr umging, hatte etwas Beruhigendes, ja beinahe Bewunderndes, sodass ihre Unsicherheit zunehmend bröckelte.
Wie auf Befehl schaute er sie durchdringend an. Mit beschleunigendem Herzschlag fühlte sie den Blick seiner Augen, deren Farbe sie beim besten Willen nicht bestimmen konnte. Sich von ihnen zu lösen kam der Anstrengung gleich, zwei gegensätzlich gepolte Magnete voneinander zu trennen. »Du weißt nicht, was es mir bedeutet, dich gefunden zu haben. Noch nicht. Ich bin schon so lange auf der Suche nach dir, dass ich gar nicht mehr weiß, wie es ist, nicht auf der Suche zu sein. Und hier stehst du. So … unschuldig.«
Sein Blick schien zu sagen, dass er etwas gänzlich anderes erwartet hatte.
Endlich fand sie ihre Sprache wieder. »Wieso hast du mich gesucht?«
»Ich habe Antworten auf all diese Fragen. Und auch auf einige andere mehr. Aber bitte hab noch ein wenig Geduld. Dieser Moment ist bei Weitem zu kostbar, um jetzt irgendwas zu übereilen und damit alles nur noch schlimmer zu machen.«
» Noch schlimmer?« Emily konnte sich nicht daran erinnern, jemals unter einer solchen Anspannung gelitten zu haben. Sie pendelte zwischen atemloser Vorfreude und panischer Angst wie die bleiern hallende Eisenglocke eines Kirchturms.
»Ja.« Er schloss die Augen. » Viel schlimmer.«
Ein Geräusch aus Richtung des beunruhigend dunklen Tunnels ließ sie erschreckt herumfahren. Der Schock, dass sie sich erst vor wenigen Stunden in diesen Tunneln verirrt hatte, saß noch immer tief. Auch wenn sie nicht wusste, wovor er sie gerettet hatte.
»Das sind nur Ratten.« Er legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Verständlich, dass dir diese unterirdischen Gänge Angst machen. Vor allem nach heute Nachmittag.«
»Ich sollte mich wohl bei dir bedanken. Ich weiß nur nicht, wofür. Was war denn da unten?«
»Die Legende scheint also der Wahrheit zu entsprechen«, sagte er wie zu sich selbst. Emilys Frage überhörte er. »Faszinierend … und verständlich, nach all den Jahren. Du kannst dich wirklich an überhaupt nichts erinnern?«
Sie schüttelte den Kopf. Jeder andere hätte sie mit dieser Frage mittlerweile hochgradig genervt. Bei Elias
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