Herbstbringer (German Edition)
bezeichnen. Und einige als Heldin. Was, bitte schön, konnte auch nach so langer Zeit noch aktuell sein? Was hatte sie nur getan?
»Dies ist der Anschluss der Grahams. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, und lesen Sie ein Buch, bis wir Sie zurückrufen«, plärrte die Stimme von Jakes Großvater unnötig laut aus dem Hörer. War es nicht immer so, wenn man sich nach viel zu langem Hadern für etwas entschied?
Sie hasste es, auf Anrufbeantworter zu sprechen, und legte noch vor dem Piepton auf.
Als sie wenig später hellwach im Bett lag, grübelte sie immer noch über Jake nach. Beschämt stellte sie fest, dass sie seit ihrer Begegnung mit Elias nur in Zusammenhang mit einem schlechten Gewissen und dem bitteren Gefühl, ihn zu hintergehen, an ihn gedacht hatte.
Was würde nur aus ihnen werden?
Am nächsten Tag fehlte Jake in der Schule, und auch nachmittags begrüßte sie nur der Anrufbeantworter am Telefon.
Wo steckte er nur? War ihm etwa was passiert? Sie beschloss, bei ihm zu Hause vorbeizugehen.
Balthasar näherte sich dem Gebäude. Wie immer spürte Michael ihn schon lange, bevor er das Gebäude betrat. Er stand wieder am Fenster, tief in Gedanken versunken. Einen Vampir zu töten war eine komplizierte Angelegenheit. Es war zwar nicht prinzipiell unmöglich, aber doch so schwer, dass man sich nur dann zu solch einem Schritt entschloss, wenn es die wirklich letzte Möglichkeit war.
Michael war sich dessen bewusst. Er sah aber keinen anderen Weg. Dass Balthasar Machtgelüste hatte und nach seiner Position trachtete, war gar nicht das Verwerfliche. Im Gegenteil: Er wusste derartige Ränkespiele um Einfluss und Stellung durchaus zu schätzen. Nicht umsonst stand er an der Spitze eines der ältesten Vampirclans, der selbst die grausamsten Fehden überstanden hatte, ohne etwas von seiner Macht einzubüßen. Um diese Macht zu erhalten, hatte auch Michael mehr als eine Intrige spinnen, mehr als einen Verrat begehen müssen.
Nein, das Problem war anderer Natur: Balthasar wusste zu viel. Michaels Versuch, das Orakel zu manipulieren, der beschämende Gassenmord sowie die Kenntnis gewisser Kapitel aus Michaels Vergangenheit, machten ihn in Kombination mit seinem Streben nach Macht zu einem gefährlichen Kontrahenten. So kurz vor dem Ziel von einem Mitglied der eigenen Familie aus dem Weg geräumt zu werden, entsprach nicht Michaels Vorstellung von ewigem Ruhm und beinhaltete eindeutig zu viel römisch-antike Dramatik.
»Er hat die Eingangshalle betreten, Sir«, meldete Radcliffe. Michael und sein Diener Radcliffe blickten auf ein mehr als zweihundertjähriges Arbeitsverhältnis zurück. Mittlerweile war er fast so weit, den ergebenen Angestellten als nicht völlig wertlos zu betrachten. Obwohl er untot war. Einen Vampir aus ihm zu machen, kam für Michael dennoch nicht infrage.
»Ich weiß. Ist alles bereit?«
»Nun ja, Sir. Ich habe sie gründlich eingewiesen. Sie sind auf ihren Plätzen und warten auf Ihr Zeichen.«
»Was danach mit ihnen geschieht, ist auch geklärt?«
Radcliffe deutete ein Nicken an. »Sie werden das Gebäude nicht wieder verlassen.«
»Zumindest nicht in einem Stück«, murmelte Michael und verließ das holzgetäfelte Arbeitszimmer. Dieser Leckerbissen sollte die Sirenen fügsam stimmen.
Er gestand sich ungern ein, dass er eine direkte Konfrontation mit Balthasar nicht zwangsläufig als Sieger überstehen würde. Denn es war weitaus mehr nötig als ein Holzpflock im Herzen, um einen Vampir unschädlich zu machen.
Der Aufzug riss ihn aus seinen Gedanken. Er konnte es nicht ausstehen, wenn das passierte. Seine Gedanken waren in letzter Zeit der einzige Ort, an dem er sich noch wohlfühlte.
»Was gibt es denn schon wieder?« Balthasar klang genervt, aber, wie Michael erfreut feststellte, auch ein wenig unsicher.
»Wie kann es sein, dass sich der Herbstbringer hier in London aufhält, es uns aber nur als Gerücht zu Ohren kommt?«, fragte Michael anstelle einer Begrüßung. »Das Mädchen könnte sich immer noch in der Stadt befinden, und dennoch stehen wir hier und unterhalten uns, anstatt uns um sie zu kümmern. Wieso, Balthasar?«
Balthasar hatte seinen langen Mantel abgelegt und sich an der Bar bedient. »Ich habe keine Ahnung«, sagte er nach einem bedächtigen Schluck Rotwein. Mit traumwandlerischer Sicherheit hatte er sich den teuersten Tropfen ausgesucht. Wie Michael diese aufgesetzte Dekadenz hasste.
»Wo warst du überhaupt?«
»Ich war auf der Suche nach ihr. Wo denn
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