Herbstbringer (German Edition)
einem verfallenen Schloss.
»Mutter!«
Wo war sie? Wo waren ihre Eltern? Sie blickte in Elias’ besorgte Augen. Er sah so anders aus. Und was für seltsame Kleider er trug …
Dann bemerkte sie, wie herrlich frei sie atmen konnte.
Sie blickte an sich herab. Offene Haare, Cordjacke, Schlaghose, Turnschuhe … kein Korsett …
Erkenntnis dämmerte.
»Geht es dir gut?«
Was für eine Frage! Sie stützte sich auf seinen Arm und atmete tief durch. Sie war tatsächlich dort gewesen, inmitten einer Horde Vampire. Der Kleidung nach zu urteilen musste es verdammt lange her gewesen sein. Auch ohne die genaue Jahreszahl des Zeitungsartikels von Jakes Großvater im Kopf zu haben, wusste sie, dass er aus exakt dieser Zeit stammen musste. Und zweifellos von ihr handelte.
Sie hatte ihre Eltern gesehen! Auch wenn sie aus irgendeinem Grund den Zorn ihres Vaters auf sich gezogen hatte. Was sie nicht wunderte, war die Abneigung, die sie gegen die meisten der Personen in diesem Saal gespürt hatte.
Sie blickte in Elias’ Augen. Interessant. Sie waren also nicht immer so dunkel gewesen wie jetzt.
Elias …
»Du und ich«, stammelte sie, »wir …«
»Schsch«, beruhigte Elias sie. »Ich weiß, aber das ist Vergangenheit. Nicht mehr als eine längst abgesetzte Theatervorführung.«
»Wieso hast du nichts gesagt?«
»Hättest du mir geglaubt? Ein fremder Kerl spricht dich mitten in London an und erzählt dir, dass du und er einst einander versprochen waren? Nein, Herbstbringer, ich wollte schließlich sichergehen, dass wir uns wiedersehen.«
»Okay.« Sie zwang sich zu Ruhe. Sie würde noch genügend Zeit haben, über das Geschehene nachzudenken. Es kostete sie alle Willensanstrengung, diese neuen Erkenntnisse für einen Moment aus ihren Gedanken zu verbannen.
Sie war mit ihrem Dasein nicht glücklich gewesen. Schon damals war sie eine Außenseiterin gewesen.
»Wieso nennst du mich so? Wieso sprichst du mich nicht mit meinem richtigen Namen an?«
Elias reagierte nicht. Er blickte konzentriert in Richtung des Tunneleingangs.
»Elias? Wieso …«
»Still«, unterbrach er sie zischend. Beunruhigt horchte Emily in die raunende Nacht.
»Ich hätte dich nicht hierherbringen dürfen.« Elias sah sie besorgt an. »Ich dachte, die vielen unterschiedlichen Gerüche und die laute Musik des Klubs würden deine Spur gründlich genug verwischen. Außerdem würden die Türsteher keine ungebetenen Gäste einlassen. Aber wie es aussieht, hat schon dieser kleine Erinnerungsfetzen ausgereicht, sie anzulocken.«
Er drängte sie eilig in Richtung der Tür, aus der sie gekommen waren. Es fiel ihr schwer, die Erinnerung abzuschütteln.
Die Augen ihrer Mutter.
»Sie? Du meinst doch nicht etwa …« Panik flockte in ihrer Stimme auf.
»Doch, ich fürchte schon. Schnell, du musst verschwinden.«
»Aber was soll ich denn jetzt tun?«
Er steckte ihr einen Geldschein zu. »Hier, nimm dir ein Taxi. Auf der Straße bist du in Sicherheit – hoffe ich. Findest du den Weg allein zurück?«
Jetzt hörte sie es auch. Ein schabendes Kratzen, das von den Wänden widerhallte. Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter. »Nein, ich … keine Ahnung, wie wir hier gelandet sind«, rief sie verzweifelt.
»Na schön, komm!« Zusammen eilten sie den dunklen Gang zurück.
»Bin ich froh, dass ich nicht die andere Methode angewandt habe, um deine Erinnerungslücken zu schließen«, brachte er hervor. Das niemals enden wollende Wummern des Klubs drang schon wieder deutlich lauter an ihre Ohren.
»Welche wäre das? Mir meinen richtigen Namen zu sagen?«
»Nein.« Bizarre Schatten tanzten über sein Gesicht, als er sich zu einem der zersprungenen Fenster wandte und die Umgebung absuchte. »Dich zu küssen.«
Emily zog es vor, darauf nichts zu erwidern. Stumm eilten sie weiter. Ihre Gedanken wanderten zu Jake. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals.
Nichts würde so sein wie zuvor.
»Ab hier findest du den Weg allein, oder? Verlass den Klub auf direktem Weg, sprich mit niemandem über unser Treffen, und öffne vor allem dies hier nicht, bis du weit weg von hier bist.«
Er drückte ihr einen weißen Papierumschlag in die Hand. »Bitte versprich mir das!«
Sie nickte wie in Trance und steckte den Umschlag ein.
»Eins noch. Es mag sich blöd anhören, aber du darfst unter keinen Umständen Blut trinken!«
Emily wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
Hinter ihnen ertönte ein kehliger Schrei. Emilys Magen zog sich zu einem Knoten purer Angst
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