Herbstbringer (German Edition)
zusammen.
»Geh!«, sagte er gepresst. »Dir bleibt nicht viel Zeit.«
»Und was ist mit dir?«
Er wandte sich zum Gehen. »Ich werde versuchen, sie aufzuhalten.«
Trotz der Geräuschkulisse konnte Emily wieder das kratzende Geräusch hören. Es klang nach viel zu langen Krallen. Abermals wandte er sich zu ihr um. Er packte sie fest an den Schultern und sah sie eindringlich an. »Finde dich selbst und komm hierher zurück. Dann werde ich dich finden.«
»Wie soll ich mich denn finden?« Sie klang verzweifelt.
»Höre, was dir der Herbstwind zu sagen hat!« Dann erstarrte er. Ein lang gezogenes Ächzen, wie der rasselnde letzte Atemzug eines unsagbar alten Wesens, drang aus der Dunkelheit, die sie zurückgelassen hatten.
»Lauf!«, schrie Elias und schubste sie von sich weg.
Sie wandte sich ab und lief die letzten Schritte zu der Tür, die sie wieder in das Hinterzimmer des Klubs bringen würde.
Das Letzte, was Emily sah, war Elias’ Silhouette, die langsam auf die Schatten zutrat.
Sie schloss die Tür – und ließ ihn allein zurück.
9
Sophie fand Emilys nächtlichen Ausflug gar nicht lustig. »Wir waren kurz davor, die Lehrer zu wecken!«, zischte sie erbost, als Emily weit nach Mitternacht wieder in ihrem Zimmer aufgetaucht war. »Dir hätte wer weiß was passiert sein können.«
»Mir geht es gut, keine Sorge«, entgegnete Emily schwach. Sie wunderte sich selbst darüber, wie leicht ihr diese Worte über die Lippen kamen. Seit sie Elias zurückgelassen hatte, stand sie neben sich, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie wusste nicht einmal mehr, wie sie wieder in die Jugendherberge gekommen war.
»Wo hast du denn überhaupt gesteckt?«
»Ich …«, begann Emily und merkte plötzlich, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, wo sie gewesen war – geschweige denn, was sie erzählen sollte. »Ist doch egal, ich bin müde. Ich war eben noch ein bisschen an der frischen Luft, was ist schon dabei?«
Damit ließ sie ihre Zimmergenossinnen stehen und sah zu, dass sie ins Bett kam. Wenig später löschte jemand das Licht.
»Ich wette, sie hat sich mit einem Jungen getroffen«, wisperte Sarah laut genug, damit Emily es auch hören könnte.
Sie reagierte nicht darauf. Noch nie hatte sie sich so sehr danach gesehnt, einzuschlafen, um am nächsten Morgen festzustellen, dass alles nur ein Traum gewesen war.
Die bittere Erkenntnis, dass es keiner gewesen war, ließ am nächsten Morgen selbst Sophies abweisende Art völlig nebensächlich erscheinen. Völlig in sich versunken packte sie ihre Sachen, saß appetitlos beim Frühstück und war die Erste, die in den Bus stieg, als die Abreise bevorstand.
Sie setzte sich alleine auf einen Fensterplatz und deponierte ihren Rucksack neben sich, damit auch niemand auf die Idee kam, sich zu ihr zu setzen.
London zog an ihren Augen vorbei, doch sie sah es gar nicht mehr.
Sie hatte einen Blick in ihre Vergangenheit geworfen – und hatte nun noch mehr Fragen als zuvor. Wer war sie? Wieso war sie, was sie war? Wieso bezweifelte sie es nicht? Und wie waren Vampire eigentlich wirklich?
Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu ihrer Mutter zurück. Die Liebe, die sie in ihren Augen gesehen hatte, ließ sie nicht los. Ihre Mutter hatte sie geliebt. Dieses Gefühl war neu für sie.
Ihr Leben würde nie wieder dasselbe sein. Und nicht nur das: Was es erst richtig schlimm machte, war, dass sie nicht wusste, wie ihr Leben fortan aussehen würde. Sie hatte den Einzigen, der Antworten auf diese Fragen zu haben schien, allein mit diesem Ding zurückgelassen und wusste nicht, ob es ihm gut ging. Mit wem konnte sie sonst darüber reden?
Mit Jake?
Immer wieder schlich er sich in ihre Gedanken. Bislang konnte sie ihn erfolgreich verdrängen – es gab auch so schon mehr als genug Probleme. Doch insgeheim wusste sie, dass sie sich ihm anvertrauen musste.
Aaron durchquerte Landstriche, die mit Ausnahme vereinzelter rötlich-brauner Blätter noch in vollem Grün standen. Hier war die Gegenwart des Herbstbringers kaum wahrnehmbar. Mehr als einmal befürchtete er, vom Weg abgekommen zu sein, fand nach einigen angespannten Momenten der Neuorientierung aber immer wieder jene feine Spur, die sich kontinuierlich nach Westen zog.
Oh, wie er es liebte, wieder auf der Jagd zu sein. Sie erfüllte ihn zur Gänze, ergriff Besitz von ihm wie ein Rausch. Ein brillanter Jäger wurde man nicht ohne Grund. Ohne Grund wurde man nicht mal ein durchschnittlicher Jäger – obwohl es derer mehr
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