Herbstbringer (German Edition)
Augen ihrer Mutter. »Nein!«, schrie Emily aus Leibeskräften, doch sie konnte dem lichtlosen Mahlstrom nicht entrinnen, der sie fortriss und die Szenerie vor ihren Augen in fahles Dunkel verwandelte.
11
Aaron war entzückt. Woods End lag da wie ein schlafendes Kind. Still, friedlich und vollkommen schutzlos.
Zweimal hatte er bereits das Haus passiert, in dem die neue Familie des Mädchens wohnte. Die Adresse stimmte ohne jeden Zweifel: Nirgendwo war der Hauch des Herbstes so stark wie hier. Es wäre so einfach. In weniger als einer Minute hätte er das Leben dieser Märtyrerin auf ewig beendet. Den Legenden und Ammenmärchen zum Trotz war sie kein Gegner für ihn. Noch nicht. Zwar konnte auch er nur vermuten, welche Kräfte in dem Mädchen schlummerten, zweifelte aber nicht an ihrer Existenz.
Was nichts daran änderte, dass ihm diese Option verwehrt blieb. Zumindest, wenn er nicht demselben Schicksal ausgesetzt sein wollte wie der Herbstbringer selbst. Und auf unbestimmte Zeit lebendig begraben, verflucht und verstoßen zu werden, gehörte bei aller fehlenden Ambition eigentlich nicht zu Aarons Zielen. Ganz zu schweigen von diesem einschüchternden Fluch. Unruhig schlich er durch Woods End. Vielleicht gab es irgendwo eine andere Möglichkeit.
Aaron verschmolz mit der Nacht.
Es dauerte eine Weile, bis Emily begriff, dass sie sich nicht im Wald befand, sondern in ihrem Zimmer. Sie starrte auf das Stück Papier, als hielte sie es zum ersten Mal in ihrem Leben in den Händen.
Levana.
Abwesend stopfte sie das Zettelchen zurück in den Umschlag und ließ ihn aus kraftlosen Händen zu Boden segeln. In ihrem Innern stritten sich tausend Dinge um ihre Aufmerksamkeit – mit dem Ergebnis, dass sie keinen einzigen klaren Gedanken fassen konnte.
Sie löschte das Licht und kroch unter die Bettdecke. Es war ihr ein zunehmend unlösbares Rätsel, wie sie sich selbst finden sollte, wenn mit jeder weiteren Enthüllung über ihre Vergangenheit neue, unangenehmere Fragen aufgeworfen wurden.
Sie hatte nicht gern getötet. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Bedeutete das etwa, dass sie getötet hatte?
Auch die Nacht hatte es nicht ändern können: Am nächsten Morgen gefiel ihr der Name Emily immer noch deutlich besser als Levana. Fürs Erste beschloss sie, bei Emily zu bleiben. Es gab nun wirklich wichtigere Dinge, um die sie sich kümmern musste.
»Ist auch wirklich alles in Ordnung, Emily?« Sie schluckte. Zum Beispiel das. Megan schaute sie besorgt an. Sie hatte sie wohl nicht das erste Mal angesprochen.
»Ja«, nuschelte sie. »Ich habe bei dem Sturm nur schlecht geschlafen.«
»Wem sagst du das!« Carter stürmte die Treppe hinunter, ungekämmt und mit aufgeknöpftem Hemd. In einem schmerzhaften Moment der Klarheit wurde ihr bewusst, wie gern sie diese Menschen hatte. Und welcher Gefahr sie allein durch ihre Anwesenheit ausgesetzt waren. »Und das ausgerechnet an meinem ersten Tag beim Southern Telegraph .«
»Du schaffst das schon, Dad!« Sophie lachte und reichte ihm einen Kaffee.
»Und nicht den Familienausflug vergessen. Der ist schon dieses Wochenende«, sagte er zwischen schlürfenden Schlucken, dann war er verschwunden.
In Englisch nahmen sie King Lear durch. Obwohl Emily das Stück noch nie gelesen hatte, wusste sie über den Inhalt Bescheid. Und zum ersten Mal wunderte sie sich nicht darüber. Sie hatte dieses Stück wahrscheinlich in einer Zeit gelesen, in der noch nicht einmal die Ururgroßeltern ihrer Mitschüler gelebt hatten. Wie sollte man sich da nicht fehl am Platz fühlen?
Was Fliegen sind
den müßigen Knaben, das sind wir den Göttern:
Sie töten uns zum Spaß. 2
Als ihre Augen über diese Stelle im vierten Akt glitten, hielt sie wie vom Donner gerührt inne. Kurzzeitig wurde ihr schwarz vor Augen, und sie machte sich bereits auf eine weitere Reise in ihre Vergangenheit gefasst. Dazu kam es diesmal nicht.
Dafür machte sich in ihr die Gewissheit breit, dass diese Stelle in ihrem früheren Leben eine große Bedeutung gehabt haben musste.
Was Fliegen sind
Den müßigen Knaben, das sind wir den Vampiren:
Sie töten uns zum Spaß.
Jetzt wusste sie es wieder. Mit dem Geschmack bitterer Galle in der Kehle entschuldigte sie sich und stürmte auf die Toilette. Kraftlos sank sie an der Wand der Kabine herab. Sie hatte diese Worte bereits früher gehört … viel früher. Jedoch nicht aus dem Munde eines Schauspielers, sondern eines Menschen. Sie sah die Bilder glasklar vor sich:
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