Herbstbringer (German Edition)
obwohl sie es versprochen hatte.
Zögerlich trat er auf sie zu. Immer, wenn sich ihre Blicke trafen, wandte er die Augen hastig ab. Wie ein ängstliches Tier , dachte Emily. Es tat ihm wirklich nicht gut, so lange allein zu sein.
»Hör mal«, begann Emily, ohne zu wissen, wie sie diesen Satz fortsetzen sollte. Sie musste es glücklicherweise nicht. Jake machte einen weiteren Schritt auf sie zu und nahm sie fest in die Arme. Zunächst ließ sie es geschehen. Sie drückte ihn fest an sich, atmete seinen Geruch tief ein, als wolle sie ihn sich einprägen. Dann, mit einiger Überwindung, schob sie ihn von sich weg.
»Jake«, begann sie wieder. »Es … es tut mir leid. Ich weiß einfach nicht, wie ich mit dieser Sache umgehen soll.«
Er schüttelte sanft den Kopf. »Du musst dich nicht entschuldigen. Ganz im Gegensatz zu mir. Du musst das erst mal verarbeiten.« Mit unendlicher Hingabe strich er ihr die widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie ließ ein Lächeln aufflackern und schwieg. »Ich kann mir nicht mal im Entferntesten vorstellen, was du gerade fühlen musst«, fuhr er fort. Emily bemerkte, dass er wieder das viel zu große Sex-Pistols-Shirt trug. Wie an dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten. Wieso hatten sie eigentlich schon Ende August einen Kürbis geschnitzt? Und wieso dachte sie jetzt an diese Nebensächlichkeit?
»Ich weiß ja selbst nicht, was ich fühle. Sollte ich Angst haben? Mich freuen? Mich verkriechen?« Ein gequälter Ausdruck schlich sich auf ihre Züge. »Ich weiß nicht, wer ich bin, Jake. Und ich hab das Gefühl, wahnsinnig zu werden, wenn ich nicht bald mehr herausfinde, oder …«
»Oder was?«
»Oder alles wieder vergessen könnte, was in den letzten Tagen passiert ist«, sagte sie leise und sank kraftlos an einem Baumstamm herab.
Jake kniete sich vor sie. »Und wenn du die Wahl hättest?«
»Was würdest du wählen? Lieber weiter in Unwissenheit leben oder endlich erfahren, wer du eigentlich bist?«
Er nickte. »Ich würde dir so gern helfen«, sagte er ernst.
»Ich weiß.« Sie drückte seine Hand. »Aber das kannst du nicht.«
»Nicht, wenn du es nicht zulässt.«
»Das hat damit nichts zu tun. Ich bin eine Vampirin, Jake. Es geht hier nicht um Ärger mit den Eltern oder Ladendiebstahl.«
»Schon klar.« Er stand auf. »Für diese niederen Dienste wäre ich dir gut genug. Aber wenn es um was wirklich Wichtiges geht, vertraust du lieber einem wildfremden Kerl aus einem Tunnel!«
Emily starrte ihn fassungslos an. Er wandte sich demonstrativ ab.
»Das ist nicht fair, und das weißt du«, sagte sie beherrscht. Das Zittern in ihrer Stimme konnte sie nicht gänzlich verbergen. »Du solltest gehen, ehe du noch mehr sagst, was dir sehr bald leidtun wird.«
Er drehte sich zu ihr um, schwer atmend und mit flehenden Augen. »Das wollte ich nicht! Bitte schick mich nicht weg. Ich will dir beistehen.«
»Das kannst du am besten, wenn du mir Zeit gibst, allein zu sein. Verdammt, Jake!«, platzte sie auf einmal heraus. »Du kennst ja nicht mal meinen richtigen Namen!« Sie konnte sich nicht erklären, woher diese plötzliche Wut kam, doch da war sie, ein pulsierender Ball in ihrem Inneren. »Was weißt du denn schon über mich? Du … du denkst nur an dich, und es ist dir völlig egal, was in mir vorgeht!«
Jake war vor dem Ansturm von Emilys erhobener Stimme regelrecht zurückgewichen. »Das stimmt nicht«, flüsterte er. »Das stimmt einfach nicht.«
»Das spielt jetzt auch keine Rolle. Gib mir ein paar Tage Zeit, um mit mir selbst klarzukommen. Das ist alles, was ich verlange. Danach sehen wir weiter. Okay?«
Jake nickte. »Ich liebe dich«, sagte er leise, ohne sie anzusehen. Dann wandte er sich um und ging.
Sie blickte ihm stumm hinterher, bis er außer Hörweite war.
»Genau das macht mir Angst.«
Um Emily herum fielen die Blätter von den Bäumen. Sie hatte dieser gewöhnlichen Randerscheinung in einer annähernd vollständig herbstlichen Welt keinerlei Beachtung geschenkt, bis sie auf dem Nachhauseweg schließlich unter einem regelrechten Blätterregen dahinspaziert war.
Sie blickte in die Bäume, die rings um sie herum aufragten. Oft hatte sie sich gefragt, wieso dieser Ort Woods End hieß, wo er doch von allen Seiten von Wald umschlossen war. Ein schönes Fleckchen Erde, das vom Herbst rasch in Besitz genommen wurde. Zu rasch. Wieso wurde sie das Gefühl nicht los, dafür verantwortlich zu sein? Welchen Sinn ergab das?
Sie hatte sich niedergeschlagen
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