Herbstbringer (German Edition)
Ein unschuldiger Mensch hatte diese Worte ausgestoßen, bevor sie ihm die Zähne in den Hals geschlagen hatte. Der Geschmack von Eisen füllte ihren Mund, und sie übergab sich. Die Gewissheit konnte sie jedoch nicht herunterspülen: Sie hatte getötet.
Als sie sich erholt und für den Rest des Tages krankgemeldet hatte, wusste sie, was sie brauchte. Respektvoll näherte sich Emily dem Eingangsbereich der Bibliothek. Obwohl sie mit grimmigem Scharfsinn festgestellt hatte, dass niemand das Gebäude fluchtartig oder mit einem Schimpfwort auf den Lippen verließ, und dies als untrügliches Zeichen für die Abwesenheit Mr Grahams wertete, beschlich sie beim Betreten der Bibliothek ein mulmiges Gefühl.
Seit er vor einigen Wochen so entsetzt von ihrem Anblick gewesen war, hatte sie sich selten hier hineingetraut. Es war einem mittelschweren Entzug gleichgekommen. Selbst nachdem sie von Jake erfahren hatte, dass sein Großvater noch immer nicht nach Woods End zurückgekehrt war, befürchtete sie, jeden Moment auf ihn zu treffen.
Wenige Augenblicke später atmete sie auf. Statt Graham thronte eine nicht minder unangenehm wirkende Frau hinter der Verleihstelle. Die bebrillten Augen musterten Emily misstrauisch, als müsse man bei jedem Schüler automatisch von einem lauten, rüpelhaften Langfinger ausgehen. Emily hätte es nicht gleichgültiger sein können. Für heute gab sie sich damit zufrieden, dass niemand vor ihr davonlief.
Erst als sie die Abteilung für viktorianische Literatur erreicht hatte, fiel ihr auf, dass sie überhaupt nicht wusste, was sie in die Bibliothek geführt hatte. Erstmals nahm sie die Regale genauer unter die Lupe, zu denen ihre Füße sie unbewusst geleitet hatten. Ihr Blick strich über die Gedichte-Abteilung mit Wordsworth und Coleridge, dann weiter zu den Romanen, von denen sie viele selbst gelesen hatte. Austen, Dickens, Thackeray … Auch heute fühlte sie jene Nähe, die sie schon immer zu den Werken dieser Epoche verspürt hatte.
Ein Schauer floss an ihr herab wie ein unverhofft kalter Duschstrahl. Hier, inmitten unzähliger Romane des 19. Jahrhunderts, realisierte Emily zum allerersten Mal, was es tatsächlich bedeutete, so alt zu sein.
Sie hatte zur selben Zeit gelebt wie viele dieser Autoren. Sie hatte ein Leben in der Welt geführt, die Charles Dickens in seinen unzähligen Büchern konserviert hatte, über die sich Jane Austens Gesellschaftsromane lustig gemacht hatten. Und abgesehen von vereinzelten Erinnerungsfetzen wusste sie rein gar nichts davon. Nicht, wer ihre Familie gewesen war, nicht, ob sie Freunde gehabt hatte oder auch mal glücklich gewesen war.
»Und da soll man nicht verrückt werden?«, murmelte sie und wanderte weiter. Ihr Blick fiel auf einen Emily-Brontë-Gedichtband. Irgendetwas brachte sie dazu, das Büchlein herauszunehmen und aufzuschlagen. Geboren 1818, gestorben 1848, las sie in der Einleitung. Vielleicht hatten sie sich gekannt? Sich darüber gefreut, den gleichen Namen zu tragen? Ach nein, damals hatte sie ja anders geheißen.
Dann fiel ihr etwas ein, das sie und Jake im Waisenhaus herausgefunden hatten. Sie blätterte durch die Seiten, bis sie gefunden hatte, wonach sie gesucht hatte. Es war ein Gedicht – und noch dazu ein wunderschönes.
The night is darkening round me,
The wild winds coldly blow;
But a tyrant spell has bound me,
And I cannot, cannot go.
The giant trees are bending
Their bare boughs weighed with snow;
The storm is fast descending,
And yet I cannot go.
Clouds beyond clouds above me,
Wastes beyond wastes below;
But nothing drear can move me:
I will not, cannot go. 3
Eine Weile stand sie einfach in dem beruhigenden Bücherozean und ließ die traurigen Worte auf sich wirken. Sie wusste, dass auf dem Stück Holz, das man bei ihr gefunden hatte, eine Zeile dieses Gedichts zu entziffern gewesen war. Sie wusste auch, dass das kein Zufall sein konnte. Die Worte berührten sie, schienen direkt an sie gerichtet. Aber warum? Eine weitere Frage, ein weiteres Rätsel um ihre Herkunft. Sie nahm den Band mit zur Ausleihe. Sie wollte den Nachmittag in einer anderen Zeit verbringen und machte sich zu Fuß auf den Nachhauseweg.
»Du wolltest dich doch melden.« Jake trat aus dem Schatten eines Baumes – ihres Baumes – hervor. Hier draußen im milchig-trüben Tageslicht sah er noch elender aus als gestern bei sich zu Hause.
»Jake.« Mehr fiel ihr nicht ein. Was sollte sie auch sagen? Sie hatte sich nicht bei ihm gemeldet,
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