Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
auf den Mund. »Und das hier.«
Wieder berühren
mich seine Lippen. Meine Stirn, meine Wangen, meinen Hals … ganz zärtlich, vorsichtig
beinahe, tausend kleine Küsse, so lange, bis ich es nicht mehr aushalte. Mein ganzer
Körper bebt. Ich sehne mich nach ihm. Und kapituliere.
Langsam
löst sich meine Erstarrung. Unsere Blicke treffen sich wieder. Und dann unsere Lippen.
Ich habe noch nie etwas so sehr gewollt wie diesen Kuss.
»Ich liebe
dich, Rosa«, sagt er, als wir uns nach einer Ewigkeit voneinander lösen. »Und ich
kann warten.« Dann dreht er sich um und geht.
Benebelt
bleibe ich stehen. Habe ich das eben, überarbeitet wie ich bin, nicht nur geträumt?
Oh nein.
Ich spüre noch die Berührung seiner Lippen, das Kitzeln seines Dreitagebartes auf
meiner Haut. Oh nein, ich habe nicht geträumt. Wenn er gewollt hätte, hätte er mich
hier in der Werkstatt zwischen Schneiderpuppen und Nähmaschinen ganz haben können.
Jetzt, Rosa
Redlich, sitzt du richtig in der Klemme.
30. Oktober
1912
Ich bin gespalten – ebenso
wie die alte Eiche am Ortseingang von Kletzin, meinem geliebten märkischen Gut.
Ein Blitz hat sie getroffen. Ihr jämmerlicher Anblick und mein nicht minder bedauerlicher
Zustand haben mich bei meiner Ankunft zum Weinen gebracht, nachdem ich für ein Wochenende
auf das Land geflüchtet war, um ein wenig zur Ruhe zu kommen.
Im Gegensatz
zu dem einst so kräftigen Baum sieht mir niemand meine Verletzung an. Es ist meine
Seele, die in zwei Hälften zerrissen ist. Die eine Hälfte ist Augusta, wie sie jeder
kennt. Sie liest, stickt, lauscht aufmerksam den Reden der anderen, widerspricht
nicht und ist freundlich und ausgeglichen gegenüber jedermann. Doch nun existiert
in mir eine weitere Person – eine, die mir bislang gänzlich unbekannt war.
Diese andere,
finstere Augusta fragt, zweifelt, hadert und will die Welt verändern. Während meine
Hochzeit vorbereitet wird, mein Brautkleid vermessen und mein Trauring angepasst
wird, rebelliert die andere Person – oder sollte ich sie nicht besser konsequent
einen Teil von mir nennen? – gegen die Verbindung mit Friedrich von Oranienbaum.
Meine andere
Hälfte möchte Wendelin Hegelow heiraten und nichts lieber tun, als mit ihm botanische
Exkursionen um die Welt zu unternehmen. Würden sie auch die härtesten Entbehrungen
von mir fordern und mich die Hälfte meines Lebens kosten. Lieber kurz und in vollen
Zügen, als lang und in einem Käfig leben.
Ja, ich habe Wendelin wider besseres Wissens ein weiteres Mal
getroffen. Sophie hat eine Zusammenkunft in ihrem Zuhause arrangiert und uns dann
alleine gelassen. Ich erzählte Wendelin von Friedrich und obwohl ich wusste, dass
es sich nicht schickt, weinte ich in seiner Gegenwart, ja, ich zeigte sogar meine
tiefe Verzweiflung ob der unlösbaren Schwierigkeiten, in denen ich mich befinde.
Er war nicht von mir abgestoßen. Im Gegenteil. Wendelin zeigte Verständnis. Nachdem
er mir zugehört und mich getröstet hatte, gestand er mir, dass er sich vom ersten
Augenblick an in mich verliebt hätte und dass er alles tun würde, um mich glücklich
zu sehen.
Ich dachte, was ich für Friedrich empfand, sei Liebe. Doch
seit ich Wendelin kenne, weiß ich, dass ich mich getäuscht habe. Dennoch erscheint
es mir falsch, mich ohne zu zögern in die Arme eines anderen Mannes zu begeben,
solange meine Verbindung zu Friedrich nicht offiziell gelöst ist.
So schwer es mir auch fiel, hielt ich es dennoch für das Beste,
Wendelin zu sagen, er möge abwarten, bis ich ein neuerliches Treffen erbitte. Es
würde mir nicht helfen, ihn wieder und wieder zu sehen, ohne eine Lösung für mein
Problem gefunden zu haben. Und die Lösung muss ich ganz alleine auf den Weg bringen.
In zwei
Wochen ist unsere Hochzeit. Was soll ich nur tun?
Augusta ist beeindruckend. Ich beneide
sie um ihre Klarheit, um ihre Prinzipien, die sie beinahe eisern einhält, auch wenn
es schwer fällt. So wie sie es einmal in ihrem Tagebuch aufgeschrieben hat. Ganz
oben ist der Verstand und den benutzt man, um die überschießenden Gefühle zu zähmen.
Aber nicht, um sie abzutöten.
Augusta
beherrscht es tatsächlich, die unglaublich schwere Balance zwischen beiden zu halten.
Wenn sie auch noch ratlos wirkt, so wird sie sicher bald eine Entscheidung treffen.
Und es wird die richtige sein. Da bin ich sicher.
Wenn ich
das nur auch mal könnte!
Ich vermute
wohl zu Recht, dass es bei mir umgekehrt ist. Denn das, was ich gerade mache, hat
mit
Weitere Kostenlose Bücher