Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
anrufen und ihr erzählen
…
Das Problem
ist nur, dass es sie vermutlich gar nicht interessieren wird. Genauso wenig, wie
sie sich noch für mich interessiert. Beim Lesen von Augustas letzten Aufzeichnungen
fange ich an zu schniefen.
Heute bin
ich wirklich besonders sentimental! Also versuche ich krampfhaft, mich abzulenken,
indem ich aufmerksam nach sachlichen Hinweisen im Text suche, die mir Aufschluss
geben könnten, was mit ihr geschehen ist. Aber da ist nichts. Sie hat mir nicht
den Gefallen getan und ›Friedrich hat mich vergiftet‹ irgendwo aufgeschrieben. Und
selbst wenn: Würde das irgendetwas nützen? Trotzdem bin ich mir sicher, dass ich
einen wichtigen Fakt übersehen habe. Ich fühle es, komme allerdings nicht drauf,
was es sein könnte.
Wie sehr
Augusta das Leben geliebt hat. Wenn ich ihre Aufzeichnungen aus Kletzin lese, kommen
mir jedes Mal die Tränen. Weil sie total glücklich war und voll Hoffnung, dass alles
gut wird.
Und dann
ist er da, der Gedanke, der Geistesblitz, der mir die ganze Zeit gefehlt hat!
Was ist
eigentlich aus Augustas Besitz geworden?
Aus dem
zauberhaften Gut Kletzin, das ihr unglaublich viel bedeutet hat.
Ich schaue
direkt bei Google nach. Treffer! Den Ort Kletzin, den gibt es – ein verträumtes
Fleckchen Erde wenige Kilometer nördlich von Berlin. Von einem alten Gutshof ist
allerdings nicht die Rede.
Als ich
langsam, aber sicher hundemüde werde, kommt endlich Leo nach Hause. Kurz darauf
liegen wir zusammen im Bett und tun, was wir immer tun, wenn wir mal allein sind.
Bevor ich, in seine Arme gekuschelt, einschlafe, kommt mir ein beunruhigender Gedanke.
Außer (zweifellos fantastischem) Sex und unserer Arbeit haben wir so gut wie nichts,
was wir zusammen unternehmen. Das muss sich dringend ändern, finde ich.
Gedacht,
getan!
»Wollen
wir am Wochenende mal aufs Land fahren?«, frage ich.
»Mmh?«
»Es gibt
da ein Dorf, das heißt Kletzin und …«
»Warum willst
du ausgerechnet da hin?«
»Na ja,
ich weiß es selbst nicht genau. Es ist, weil ich doch das alte Tagebuch lese und
da ist diese Augusta, die dort früher gelebt hat …«
»Klingt
nicht sehr spannend.«
»Ich finde
es aber spannend.«
»Meinetwegen«,
sagt Leo lachend. »Wenn es dich glücklich macht, dann fahren wir hin.«
*
»Muss das wirklich sein?«
An die Fensterscheibe
klatschen dicke Tropfen. Die letzten Blätter der Linde vor dem Haus werden vom Wind
abgerissen und davongetragen. Ausgerechnet! Die vergangenen Tage waren warm und
sonnig, für November viel zu mild. Warum musste Petrus gerade heute beschließen,
dass er genug von der Klimaerwärmung hat?
Ein Ausflug
aufs Land an einem stürmischen, nasskalten Novembertag …
Leo sieht
nicht begeistert aus. Aber ich habe es mir nun mal in den Kopf gesetzt, also bettele
ich so lange, bis er nachgibt.
»Danach
gehen wir gleich ins Bett, zum Aufwärmen«, sage ich lachend, während ich ihn dankbar
umarme. Er küsst mich.
»Ich komme
drauf zurück!«
Wir packen uns warm ein und los geht es. Es ist schön, einen
Herbstausflug zu machen. Ich bin ganz kribbelig, obwohl ich keine Ahnung habe, ob
wir im richtigen Kletzin landen und wenn ja, ob noch Teile von Augustas Haus und
Hof erhalten sind. Im Internet habe ich gelesen, dass viele alte brandenburgische
Herrenhäuser zerstört und abgerissen wurden, andere total verkommen sind, symbolisch
für einen Euro verkauft und vom neuen Eigentümer mühsam und kostenintensiv saniert
und wiederaufgebaut werden.
Als wir
den Potsdamer Platz überqueren, sehe ich seit längerer Zeit mal wieder die kleine
Pferdehof-Kutsche. Kinder stehen herum und halten Plakate hoch. Ich bin gerührt.
Sie geben nicht auf. Sogar bei diesem Mistwetter kämpfen sie für ihre Ponys. Ich
beschließe, meinen Fehler von neulich wiedergutzumachen und am Montag an ihrem Stand
vorbeizuschauen.
Leo und
ich verlassen die Stadt in nördlicher Richtung. Er gibt ordentlich Gas. Ich starre
auf die vorbeiziehende Landschaft und träume ein wenig vor mich hin.
»Oh mein
Gott!«, schreie ich plötzlich und setze mich kerzengerade auf meinen Sitz. »Du musst
umkehren!«
»Wie bitte?«
Leo guckt mich an, als ob ich spinne.
Dabei bin
ich ganz klar.
Die Kinder
am Potsdamer Platz, der Ponyhof, die vielen Fotos an dem kleinen Wagen … Schon beim
ersten Mal war ich eigentümlich berührt davon gewesen. Und eben ist es mir klar
geworden, warum! Es ist das Haus! Auf einem der Bilder! Ein großes dreiflügeliges
Gebäude mit einer
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