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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Mütze an. Ich schulterte die Tasche, nahm Lilli auf den Arm und verließ Hohehorst als eine andere. Emmi Quandt, geboren in Königsberg, Ostpreußen, gab es nicht mehr. Von nun an war ich Charlotte Hanna Sternberg, die mit ihrer Tochter Lilli auf der Flucht war.
     
    Die Dokumente, die ich bei mir trug, sichtete ich erst Tage später. Ich befand mich inzwischen auf der Höhe von Dortmund, bei einer Familie, die mich auf der Landstraße aufgelesen hatte. Das erste Mal seit Tagen hatte ich mich wieder richtig gewaschen und nun saß ich erschöpft und dankbar auf einer Gästeliege, die sie im Wohnzimmer aufgestellt hatten, die kleine Lilli schlief neben mir.
    Als Erstes öffnete ich die mit
Geheim
gekennzeichneten Umschläge, einen nach dem anderen, und las. Las von vorne bis hinten all die Grausamkeiten, die in diesen Tabellen aufgelistet waren. Ich kann und will sie hier nicht wiedergeben, die Monstrositäten, von denen ich an jenem Abend im Zimmer der fremden Familie las, nur so viel: Ich war erfüllt von einem so großen Entsetzen und einem Ekel, wie ich ihn nie zuvor und auch nie mehr danach empfunden habe. Noch Jahre, viele Jahre später verfolgten mich die Fotos, die das Grauen dokumentierten, im Traum. Bilder vongequälten und geschundenen Kreaturen mit hohlen Wangen und Augen, in denen jede Hoffnung erloschen war. Die Augen von lebenden Toten.
    Mein erster Impuls war, all diese Abscheulichkeiten in Stücke zu reißen. In winzige Fetzen, sodass ich die Gequälten nie mehr würde sehen müssen. Doch dann tat ich es doch nicht, sondern steckte sie in die Umschläge zurück und stopfte alles wieder auf den Grund meiner Tasche. Und dann nahm ich die Lebensbornakten zur Hand. Hannas und Lillis Geburtsurkunden. Da war ein Beurteilungsbogen über die kleine Lilli, und dort ihre Karteikarte. Und schließlich, ich traute meinen Augen kaum, Lillis Vaterschaftsanerkennung. Ich ließ den Bogen sinken. Warum um Himmels willen war die in Hohehorst gewesen? Alle Vaterschaftssachen unterlagen strikter Geheimhaltung und wurden daher in der Münchner Zentrale aufbewahrt. Ich nahm den Hefter wieder hoch und hielt die Seiten so, dass das Licht darauf fiel. Und dann las ich es:
Ich , Heinrich Georg Sartorius, erkenne an, der Vater von Lilli Sternberg zu sein.
    Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so dasaß und auf die Schrift starrte. Es konnten Stunden, aber auch nur Minuten vergangen sein. Als ich aufblickte, tastete mein Blick sich an der weißen Wand empor, zum Fenster, vom Fenster durchs Zimmer. Bis zu dem Kind, das neben mir im Bett lag, die blonden Wimpern auf den rosigen Wangen liegend. Ich hatte das Kind eines Mörders entführt, die Tochter von Heinrich Sartorius, des Mannes, der Hanna und meinen Sohn auf dem Gewissen hatte.

 
    Als irgendwann die Araberin an meinen Tisch trat und fragte, ob alles in Ordnung sei, muss ich sie angesehen haben wie eine Erscheinung. Ich nickte zerstreut, murmelte »Aber ja« und nahm den ersten Schluck von meinem Milchkaffee. Er war kalt. Ich bestellte noch ein Wasser und zwei Stunden später einen arabischen Vorspeisenteller, nicht aus Hunger oder Appetit, sondern weil mir vor Schwäche übel war. Als ich die letzte Seite der Aufzeichnungen meiner Großmutter umblätterte, kam das Essen und ich zwang mich, ein wenig von dem Hummus mit dem warmen Brot zu mir zu nehmen, pickte ein paar Oliven auf und schob die Würfel mit dem Schafskäse hin und her. Das Essen war sicher sehr gut, doch in meinem Mund fühlte es sich an wie Mehl. Wie groß musste ihr Schmerz gewesen sein! Ein Kind zu verlieren. Ich konnte dieses Gefühl nur erahnen und selbst das reichte mir schon. Ich blinzelte, doch die Tränen traten mir trotzdem in die Augen. Also war das Baby mit dem dunklen Haar Omas Paulchen gewesen, ihr Kind, hervorgegangen aus einer Liebe, die nicht hatte sein dürfen.
Wir beide in Hohehorst, März 1944
. Und dann hatte sie das Kind einer anderen genommen und war mit ihm davongegangen. Als die andere.
     
    Ich spülte mit Wasser nach. Ich würde nie wieder etwas essen können. Die Fotos, die in dem größeren der beiden Umschläge gesteckt hatten, waren so widerwärtig, so grauenhaft, sie übertrafen alles, was ich bisher an Schrecklichkeiten gesehen hatte. Ihr Bild hatte sich auf ewig auf meiner Netzhaut festgebrannt. Ich schob den Teller von mir. Mit mechanischen Bewegungenpackte ich alles zusammen, legte einen Schein auf den Tisch, viel zu viel, und verschwand, ohne jemanden anzusehen und ohne den

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