Herbstvergessene
Mal zuvor erschien mir das Geräusch des Spatens in der Stille ringsum überlaut. Obwohl ich eigentlich zutiefst erschöpft hätte sein müssen, bekam ich von irgendwoher neue Energie und grub noch schneller, rammte den Spaten mit noch größerer Kraft in die Erde. Wenn es wieder die falsche Kiste wäre, müsste ich meine Flucht auf den nächsten Tag verschieben. Aber ob ich dann noch den Mut dazu aufbringen würde? Nein, ich musste fort, dann eben ohne die Unterlagen. Als ich erneut den hohlen Klang von Metall auf Holz hörte, kratzte ich die restliche Erde von der Kiste und da, da waren sie, Sartorius’ Buchstaben, mit denen er die Kiste gekennzeichnet hatte. In diese Kiste, das wusste ich, hatte ich die Mappen getan. Ich richtete die Taschenlampe aus, hob den Deckel. Zuoberst lagen, gebündelt in grauen Aktendeckeln, die Umschläge, die Sartorius zum Schluss hineingetan hatte. Die Aktendeckel waren vorne mit einem Raster versehen, jedoch ohne Aufschrift. Beim Herausnehmen sah ich, dass es insgesamt mindestens dreißig Stück sein mussten. Ich fing an, die Aktendeckel herauszunehmen und auf den Deckel der Kiste zu legen, damit sie nicht schmutzig wurden. Als ich nach dem letzten Packen griff, klappte der Aktendeckel auf und ich sah den Stempel auf dem obersten Umschlag.
Geheim
prangte in roter Schrift darauf. Ich drehte den Umschlag um und sah, dass er versiegelt war. Was hatte Sartorius da beiseitegeschafft? Ich zögerte einen Momentlang. Ich wollte einen raschen Blick hineinwerfen, doch ich zögerte, denn ich hatte nicht mehr viel Zeit. Was, wenn Lilli wach geworden war? Trotzdem griff ich schließlich nach dem Umschlag, der zuoberst lag, und erbrach das Siegel mit fahrigen Fingern. Ich zog die Papiere heraus, ganz oben auf der ersten Seite stand
Konzentrationslager Neuengamme.
Im ersten Moment verstand ich nicht recht, was ich da vor mir hatte. Berichte in Tabellenform, Vor- und Zunamen, Geburtsdaten, Nummern, waren das Krankenakten von Häftlingen? Doch ein zweiter, gründlicherer Blick belehrte mich eines Besseren: Es waren Berichte über Versuche, Experimente an Lagerinsassen, denen Tuberkelbakterien beigebracht wurden. Und die, wie es aussah, an den Folgen dieser Versuche gestorben waren. Als durchführender Arzt war Dr. Heinrich Sartorius eingetragen.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort auf dem Boden kniete, in der aufgeschütteten Erde, und den Strahl meiner Taschenlampe auf die Seiten richtete. Mit einem Mal war alles klar. Natürlich, so war es gewesen. Er hatte Hanna getötet. Er hatte sie mit irgendwelchen Teufelsbakterien infiziert, ihr vielleicht eine Spritze gegeben. Und Paulchen? Hatte er auch ihn umgebracht – oder war seine Infektion eine »Folge« von Hannas Krankheitsausbruch gewesen, genauso wie meine? Irgendwann tat ich den Bericht in den Umschlag zurück. Ich hatte nicht mehr viel Zeit. Und als ich das Gesuchte schließlich aus der Kiste holte, hatte ich mich wieder so weit im Griff, dass ich aufstehen konnte.
Inzwischen dämmerte es bereits. Ich nahm alle Unterlagen, die Lilli und Hanna betrafen, heraus, ich war nun sehr in Eile, sichten konnte ich die Papiere später. Beim groben Durchblättern achtete ich lediglich auf Lillis und Hannas Geburtsurkunden und kontrollierte auch, dass Hannas Pass darin steckte. Und natürlich auch die internen Lebensbornakten, die würde ich irgendwo unterwegs verschwinden lassen. Als Letztes nahm ich alle Umschläge, die Sartorius in die Kiste gesteckt hatte, an mich und lief zurück, nachdem ich die Erde wieder über die Kiste geschoben und meine Spuren verwischt hatte.
In der Küche war bereits Licht, doch die Tür zum Korridor war geschlossen und das Geklapper der großen Blechkannen drang nur gedämpft zu mir heraus, während ich den Korridor entlang zur Treppe huschte, inständig hoffend, dass niemand vom Küchenpersonal ausgerechnet in dem Moment den Kopf zur Tür herausstecken würde. Und ich hatte Glück.
Zurück im Zimmer nahm ich die Reisetasche, die bereits fertig gepackt im Schrank stand. Ich öffnete sie, schob die Dokumente ganz unten hinein. Dann holte ich die Schere aus meiner Schreibtischschublade, trat vor den Spiegel und schnitt meine langen Zöpfe ab und stopfte sie in einen Beutel. So gut es eben vor dem kleinen Spiegel im Schrank möglich war, versuchte ich, alle Haare einigermaßen gleich lang zu schneiden. Dann ging ich hinüber zum Bett, wo das schlafende Kind lag, schlug die Decke beiseite und zog ihm Mäntelchen und
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