Herbstvergessene
all die Lügen, über die Vergangenheit, Mutters Tod, über mich. Über das Kind? Morgen früh würde ich fahren.
Als ich mir einen Mietwagen besorgt und gepackt hatte, es war inzwischen kurz vor sechs, ging ich noch rasch zur Bäckerei gegenüber, um dort für den nächsten Tag etwas Reiseproviant zu kaufen. Ich wechselte ein paar Worte mit der Bäckereifrau, die ich von meinen vorherigen Einkäufen ein wenig kannte, und als sie erfuhr, dass ich nun eine Weile lang nichtmehr kommen würde und auf dem Weg nach Ligurien wäre, meinte sie scherzhaft, sie würde sich zu mir ins Auto setzen und mitkommen. Jemand anders könne hier mal die Semmeln verkaufen. Und es gelang mir sogar zu lächeln bei der Vorstellung der behäbigen Frau auf meinem Beifahrersitz; am liebsten hätte ich sie tatsächlich mitgenommen. Mein Gott, ich war wirklich am Ende meiner Nerven.
Irgendwann bekam ich Hunger, und während ein Süppchen aus sämtlichen Resten auf dem Herd vor sich hin brodelte, klingelte das Telefon. Mit dem Kochlöffel in der Hand nahm ich den Hörer ab.
»Sternberg.«
»Ich bin’s.« Seine Stimme hätte ich unter Tausenden erkannt.
»Roman«, hauchte ich, etwas atemlos. Ich kam mir albern vor.
»Ich habe so oft versucht, dich zu erreichen.«
Ich räusperte mich, drückte den Rücken durch, atmete tief und sagte: »Ich weiß.«
»Warum hast du nie zurückgerufen?«
»Kannst du dir das nicht denken?«
»Wegen …?«
»Deshalb auch«, fiel ich ihm barsch ins Wort.
»Und weshalb noch?«
Ich zögerte. Ich hatte keine Lust auf eine längliche Diskussion am Telefon, auf ein Frage-und-Antwort-Spiel mit einer Person, bei der ich über den Wahrheitsgehalt jeder Aussage nachgrübeln musste.
»Ich glaube nicht, dass wir dieses Gespräch fortsetzen sollten. Außerdem verreise ich morgen ganz früh. Ich muss jetzt aufhören.«
»Ich hatte gehofft, wir könnten uns sehen.« Er klang so nett, so liebevoll, dass ich zu gern wieder auf ihn hereingefallen wäre.
»Ich muss morgen früh raus. Also …« Ich ging zurück in dieKüche und rührte in der Suppe. Ich probierte das Gemüse, und als es mir weich genug vorkam, drehte ich das Gas ab.
»Wohin geht’s denn?«
»Nach Ligurien. Jetzt kannst du darüber nachdenken, ob das stimmt. Oder ob ich dich angelogen habe.« Mit einem Mal spürte ich, wie mir das Blut in die Wangen schoss, wie meine eigenen Worte mich in eine unglaubliche Wut versetzten. Mit mühsam beherrschter Stimme presste ich heraus: »Hat es je einen einzigen Satz gegeben, den du zu mir gesagt hast, der gestimmt hat?«
»Ich verstehe nicht.«
»Du hast es gelesen!«
Schweigen. Stille. Ein paar Sekunden vergingen, bis er schließlich sagte: »So hast du es also gefunden?« Seine Stimme klang matt, müde.
»Ja, ich habe es gefunden.«
»Und gelesen?«
»Was für eine wirklich
dumme
Frage!« Ich schnaubte. »Du hast mich glauben lassen, meine Oma sei an
Zwangsadoptionen
beteiligt gewesen. Du hast mich glauben lassen, sie und dein Vater hätten eine
Beziehung
gehabt. Dabei war sie ja eine andere! Und du wusstest, dass
du und ich
… dass wir …« Die Stimme versagte mir. In der Leitung war nur Schweigen. Nur mit Mühe gelang es mir, die Tränen zurückzuhalten. Als er nicht antwortete, sagte ich schließlich: »Warum hast du mich herumirren lassen? Warum hast du mir nicht alles gesagt, was du wusstest?« Ich holte einen Suppenteller und knallte ihn auf den Tisch. »Und ich habe mit Prohacek gesprochen. Hattest du allen Ernstes geglaubt, das würde nicht herauskommen?«
»Ich wollte … dich schützen … das Bild, das du von deiner Oma hattest. Du hast so liebevoll von ihr gesprochen. Was für eine wichtige Rolle sie für dich als Kind gespielt hat.«
Ich lachte höhnisch auf. »Du erzählst mir hier vielleicht was vor! Weichspülerversion im Schonwaschgang. Du und Mutter, ihr hattet eine Auseinandersetzung. Du wolltest verhindern,dass die Sache bekannt wird. Dass alle erfahren, was dein Vater für einer war. Du wolltest sie daran hindern, das Buch dem Verlag zu geben. Und du wolltest verhindern, dass ich es je erfahre.«
»Wovon sprichst du eigentlich? Herrgott noch mal, Maja! Ja, ich habe mit deiner Mutter gesprochen. Es war ein seltsames Gespräch, wie du dir vorstellen kannst. Nach all den Jahren eine Schwester … Halbschwester zu treffen, ja! Aber wir sind nicht im Bösen auseinandergegangen.«
»Ich weiß, dass meine Mutter vorhatte, die Unterlagen an die Öffentlichkeit zu
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