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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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das.« Und dann nickte er mir zu, ein kühles und geschäftsmäßiges Nicken, und wie in Trance streckte ich die Hand aus und nahm das kleine Paket entgegen. Die Frau sah mir nach, die Türglocke begleitete mich hinaus und dort stand ich nun, vor dem Laden. Ein Mann ging vorüber und betrachtete mich neugierig. Schließlich setzte ich mich in Bewegung und ging, ging immer schneller, das Päckchen in derHand haltend. Und dann rannte ich. Drei Straßen weiter hielt ich es nicht mehr aus, machte halt und riss das braune Papier ab. In einem Schächtelchen lag ein Schlüssel, ein Haustürschlüssel, wie es aussah, und auf einem kleinen weißen Zettel stand in einer eckigen Handschrift:
Friedrichstr . 5 . Dritter Stock, morgen Mittag, 12.00   Uhr. Bitte komm.

 
    Einige Minuten später klingelte ich bei Erna. Als niemand öffnete, wartete ich, klingelte erneut, dann noch einmal. Vielleicht war sie gerade draußen und stellte der Katze Futter hin. Ich drückte die Kippe an meiner Schuhsohle aus, tat sie in ein kleines Schächtelchen aus Blech, das ich immer bei mir trug, seit mich das Wegwerfen einmal zehn Euro gekostet hatte, und trat von einem Bein aufs andere. Ich fror, und während ich wartete, überlegte ich, was ich tun sollte. Ich zog die Schultern hoch und steckte die klammen Hände in die Manteltaschen. Meine Finger umschlossen das kleine Tütchen, das der Polizist Cincek mir übergeben hatte. Mutters Schlüssel. Es waren drei an der Zahl, zwei fast identische und ein etwas kleinerer, wahrscheinlich für den Briefkasten. Ich probierte den ersten, der sich natürlich nicht drehen ließ, doch der zweite passte dann tatsächlich. Ich drückte die schwere Tür auf. War es wirklich erst zwei Tage her, dass ich hier gestanden und Erna Buchholtz mich für eine neugierige Zeitungstante gehalten hatte? Ich steuerte auf ihre Wohnungstür zu und läutete. Vielleicht lag sie ja in der Badewanne? Ich wartete weitere fünf Minuten, dann fasste ich einen Entschluss. Ich ging die Treppe nach oben. Im Hinaufgehen hörte ich den Fahrstuhl klappern, jemand fuhr nach unten und stieg aus. Es roch nach Wandputz und auch ein wenig nach Gebratenem. Meine Beine waren mir schwer, die Füße brannten, nachdem ich den halben Tag in der Stadt herumgelaufen war. Auf dem obersten Treppenabsatz blieb ich stehen.
    Mutters Wohnung ging über die gesamte obere Etage und war riesengroß. Ursprünglich hatte es hier zwei Eingangstürengegeben: eine für »die Bedienerin«, wie Mutter ironisch und im schönsten Wienerisch bemerkt hatte, die andere für »die Herrschaft«. Und obwohl Mutter tatsächlich eine Zugehfrau gehabt hatte (jedenfalls war das früher so gewesen), hatte sie die zweite Tür vernageln lassen. Ich stand eine Weile herum und wusste nicht recht, was ich jetzt tun sollte. Ich war noch nie ein Held gewesen, außerdem hatte ich in meinem Leben zu viele Krimis gelesen und auch gesehen (eigentlich waren Krimis das Einzige, was ich neben meiner Fachlektüre in Sachen Interior Design regelmäßig konsumierte), als dass ich mich nun, nach Einbruch der Dunkelheit, in der Lage gefühlt hätte, in Mutters Wohnung zu gehen. Einfach so. Die einzige Alternative bestand allerdings darin, mich unten auf die Treppe zu setzen und auf Erna zu warten. Ich dachte an das Lichtgeflacker, das ich vorhin von der Straße aus – es war noch keine zehn Minuten her – zu sehen geglaubt hatte. Doch ich schüttelte den Gedanken ab, er war ganz klar das Hirngespinst einer übermüdeten Frau, die gerade ihre Mutter verloren hatte und den ganzen Tag in der Stadt herumgeirrt und daher völlig übermüdet war. Ich ließ den Blick schweifen, über die dunkelgrün lackierten Türen, die alten Zementfliesen mit ihrem grünen, roten und schwarzen Sternenmuster, das Geländer, dessen Handlauf aus Holz von Generationen von Wienern blank gerieben worden war. Etwas weiter links befand sich der Aufzug, das restaurierte Schmuckstück, das zwar klapperte und schepperte, inzwischen jedoch dem neuesten Stand der Technik entsprach, seitdem es einen ganz neuen Kern aus Stahl erhalten hatte. Ich seufzte, ging wieder hinunter, setzte mich auf die unterste Treppenstufe, links die Haustür, rechts Ernas Wohnungstür im Blick, und wünschte mich in einen anderen Film.
     
    Eines meiner charakterlichen Defizite ist mein Mangel an Geduld, der noch ausgeprägter ist als meine Hasenherzigkeit. Was, wenn Erna B. erst in ein, ach was, in zwei, drei Stundenzurückkäme? Wollte ich die ganze

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