Herbstvergessene
rechter Wollstrumpf kratzte oben am Schenkel, etwas kitzelte in meiner Nase, etwas prickelte in meinen Bronchien und ich glaubte schon, in einen Hustenkrampf zu verfallen, als die Tür aufgerissen wurde und mit einem satten Schlag ins Schloss fiel. Mit der Stille, die plötzlich einkehrte, verebbte auch mein Hustenreiz.
Jetzt rannte ich nach oben, immer zwei Stufen auf einmal, doch dabei trat ich so leise wie möglich auf. Im dritten Stock stand ich vor der Wohnung. Ich sah mich um, kein Schild, nichts. Wem mochte sie gehören und konnte ich, durfte ich einfach so hineingehen, mit einem fremden Schlüssel, in diese Wohnung, von der ich noch nicht einmal wusste, wem sie gehörte? Was, wennjemand darin war? Ich legte mein Ohr an die weiß lackierte Tür, verharrte so einen Augenblick. Ich lauschte, hörte aber nur die Stille. Dann steckte ich den Schlüssel in die Tür, sperrte schnell auf und schlüpfte hinein, schloss die Tür. Und blieb an die Tür gelehnt stehen, mit klopfendem Herzen. Wieder lauschte ich, immer in Angst, dass jemand auftauchen und mich zur Rede stellen könnte. Aber wer außer Paul sollte hier sein? Ich wischte mir die schweißigen Hände an meiner Jacke ab, ging auf eine zweiflüglige Glastür zu, durch deren Sprossen ein milchiges Licht drang, und öffnete sie.
Das Zimmer war groß, riesig, wie mir schien, und es ging in ein anderes Zimmer über. Ich öffnete die nächste Tür, ging in ein weiteres Zimmer und dann in noch eines und in ein viertes, fünftes. Ich war noch nie in einer Wohnung wie dieser gewesen. Die Wände waren eierschalenfarben gestrichen und glänzten matt im Licht, das durch die hohen Fenster fiel. Alle Zimmer standen voller schöner alter Möbel, Tischchen und Sofas, Sessel und Schränke mit gewundenen Füßchen, wie von einem krummbeinigen Dackel. Vor dem Kamin tiefe Sessel aus altrosa Samt, daneben Kristallvasen auf hochbeinigen Tischchen und immer wieder Spiegel und Bilder, Bilder und Spiegel. Vor einem Fenster im Schlafzimmer eine Chaiselongue.
Ich wartete auf Paul. Und als er nicht kam, wurde ich unruhig und lief den langen, dämmrigen Flur entlang, schaute in alle Räume. Im Schlafzimmer öffnete ich die Wandschränke. Sie waren voller Kleider. In den Schränken im Bad fand ich braune Fläschchen, halb voll und fast leer, eine angebrochene Packung Borax und eine Seife. Ich nahm sie und roch daran, Maiglöckchen oder Flieder musste es sein. In einem anderen Fach standen leere Flakons. Ich nahm sie heraus, roch an allen, stellte sie wieder hinein und betrachtete eine Weile lang eine Puderdose, auf der noch ein Fingerabdruck zu sehen war. Ich blickte in den Spiegel, in Dämmerung eingehüllt. Licht gab es keines, der Strom war abgestellt. Das Wasser floss nach wie vor, wenngleich braun, abgestanden und nach Rost riechend.Ich ging zurück ins Wohnzimmer, legte mich mitten auf den Teppich und wartete auf Paul. Und dann hörte ich den Schlüssel in der Tür, die Tür schwang auf und Paul betrat den Raum. Ich sprang auf, er ging auf mich zu und es war, als hörte die Zeit auf zu existieren. Er berührte mein Haar, streichelte meinen Kopf. Er strich mir die Jacke von den Schultern, öffnete die Knöpfe meiner Bluse, jeden einzelnen, mit großer Sorgfalt, als habe er alle Zeit der Welt, mein Rock fiel zu Boden. Und dann löste er die Schleifen meiner Zöpfe und begann, ganz langsam, die Flechten voneinander zu lösen, in unendlicher Zärtlichkeit, bis mir das Haar über die nackten Brüste fiel.
Das Telefonat endete damit, dass Wolf mich mit einem komischen Unterton fragte, welcher Mann außer ihm wüsste, dass ich in Wien sei. Auf meine Versicherung, dass ich es außer ihm und seinem Freund John, dessen Wohnung ich gerade einrichtete, niemandem gesagt hätte, reagierte er mit Schweigen. Woraufhin ich erwiderte, dass er die Stimme seines Freundes ja wohl noch erkennen werde. Wir verabschiedeten uns in einsilbiger Höflichkeit und einen Moment lang ärgerte ich mich über Wolf und seine übertrieben misstrauische Reaktion. Was war nur in ihn gefahren? Da rief ein wildfremder Typ an, irgendeiner, und er verdächtigte mich gleich, warum eigentlich? Sicher, wir hatten so manchen Disput gehabt in der letzten Zeit, und wenn ich nicht gerade dabei war, mich über seine Kleiderberge auf dem Bett zu ärgern, dann war er garantiert damit beschäftigt, die Heizkörper herunterzudrehen, weil man seiner Meinung nach auch bei 16 Grad noch ein prima Leben führen konnte. Aber
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