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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Zeit auf der Treppe herumhocken, den immer müder werdenden Blick unbeirrt auf die Buchholtz’sche Wohnungstür geheftet? Und vielleicht jedem Eintretenden freundlich zunicken, in der Hoffnung, man würde mich
nicht
für eine Obdachlose halten? Ich sah an mir herunter. Die Angewohnheit, grundsätzlich nie einen Schirm zur Hand zu haben, wenn man ihn brauchte, trug nicht dazu bei, mein Image aufzupolieren. Mein dunkelgrüner Armymantel zeigte im Moment zwei verschiedene Nuancen von Grün: ein helleres (an der Armunterseite) und ein sehr viel dunkleres, vor Feuchtigkeit glänzendes an Schultern und Brust. Dort, wo ich die Tasche getragen hatte, war es ebenfalls heller. Ich setzte mich auf die oberste Treppenstufe und fingerte in meiner Tasche herum. Wieder einmal freute ich mich über die Tatsache, dass Wien – im Gegensatz zu deutschen oder gar italienischen Großstädten – ein Eldorado für Raucher war, und zündete mir erst einmal die nächste Zigarette an. Sie schmeckte mir nicht. Die Halsschmerzen, die ich mir durch das nächtliche Herumliegen im Luftzug geholt hatte, waren wieder aufgeflammt. Ich klemmte die Zigarette zwischen die Lippen und kramte erneut in meiner Tasche herum. Ausnahmsweise fand ich das Handy sofort und Wolf meldete sich nach dem ersten Klingelton.
    »Ich bin’s.«
    »Ach   … Warte einen Augenblick, ich muss kurz nach draußen gehen.« Es raschelte, im Hintergrund hörte ich Stimmengewirr, eine Tür, die knallte, einen unterdrückten Fluch und dann wieder Wolfs Stimme, besorgt: »Bin hier noch beim Warthäuser. Die Feuchtigkeit in der Wand macht mir Sorgen. Aber jetzt erzähl: Wie geht’s dir?«
    »Ich   … muss immer daran denken, wie sie da auf diesem Stahltisch gelegen hat. Und dass sie so gar nicht   … verletzt aussah. Jedenfalls nicht das, was sie mir gezeigt haben   … ihr Gesicht. Ach ja, Sie haben sie
freigegeben

    »Hast du schon einen Termin? Für die Beerdigung, meine ich.«
    »Ich geh morgen zu einem Bestattungsinstitut. Ich will sie nach Hause holen, sie soll neben Oma liegen.«
    Eine Pause entstand, ich stellte mir Wolfs Gesicht vor, angespannt. Plötzlich sagte er: »Da hat jemand angerufen und nach dir gefragt.«
    »Ja?«
    »Ein Mann.«
    »Ja, und? Wer war’s?«
    »Ich weiß nicht, er hat einen Namen genannt, ich hab’s vergessen. Zuerst dachte ich, es ginge um einen Auftrag, er wäre ein Kunde von dir. Aber der Kerl schien von deiner Arbeit gar nichts zu wissen.« Wolfs Stimme hörte sich irgendwie belegt an.
    »Hm. Und dann?«
    Wolf hatte die Eigenart, immer systematisch vorzugehen. Das war sicher mit ein Grund dafür, dass er ein so hervorragender Restaurator war, doch es gab Situationen, in denen ich es vorgezogen hätte, einfach nur »den einen Satz« zu hören. Allerdings wusste ich auch, dass es keinen Sinn hatte, ihn zu drängen. Wenn ich dazwischenquatschte, bewirkte das höchstens, dass er noch vor dem Neolithikum anfing.
    »Na ja, ich hab ihm gesagt, du wärst verreist, und da meinte er, er habe deine Handynummer verloren und ob ich sie ihm bitte geben könnte.«
    Ich wurde nun doch zu ungeduldig und unterbrach ihn: »Und, hast du sie ihm gegeben?«
    »Nein, dazu kam ich nicht mehr. Denn stell dir mal vor   …« Wolf verstummte abrupt und ich merkte, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Als er dann fortfuhr, war seine Stimme dick vor Misstrauen. »Er hat mich plötzlich gefragt, ob du in
Wien
wärst.«

 
    Ich stand vor der Haustür eines weiß gestrichenen Jugendstilhauses in einer kleinen Straße, deren Bürgersteige von Linden gesäumt waren. Die Haustür war geschlossen. Ich sah mich um, dachte, was ist, wenn mich jetzt einer fragt, was ich hier mache? Auf der anderen Straßenseite, schräg gegenüber, ging eine Frau mit einem Hut vorüber, aber sie beachtete mich nicht. Ich zögerte noch einen kurzen Moment, dann steckte ich den Schlüssel ins Schloss und sperrte auf. Im Inneren des Hauses war es kühl und dunkel, es roch nach Putzmittel und Seife, nach Bohnerwachs. Im Hinterhof kreischte eine Säge. Ansonsten war es still. Ich war schon an der untersten Stufe, als plötzlich von oben Schritte zu hören waren. Sollte ich wieder hinaus oder einfach die Treppe nach oben gehen, würdevoll, ein Fräulein aus gutem Hause, das einer Bekannten einen Besuch abstattete? Stattdessen kroch ich unter die Treppe und hielt den Atem an. Die Schritte wurden lauter, jemand pfiff
Liebes kleines Frollein Inge
. Ich bekam keine Luft mehr, mein

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