Herbstvergessene
oder kannten Sie einen Dr. Heinrich Sartorius?«
Das Schweigen, das auf meine Worte folgte, war mit den Händen zu greifen. Da sie keine Anstalten machte, mir zu antworten, fuhr ich fort: »Ihnen mag die Frage ungewöhnlich erscheinen, aber ich bin gerade dabei, den Nachlass meiner Mutter zu regeln, und in diesem Zusammenhang tauchte …«
»Was wollen Sie?«, zerschnitt die Frau meinen Erklärungsversuch und ich erschrak über die Heftigkeit, mit der sie die Frage ausstieß.
»Nichts«, stammelte ich, »ich wollte nur mit Ihnen reden … und wissen, ob Sie ihn kennen.«
Einen Augenblick lang schwieg sie, doch dann hörte ich, wie sie leise zischte: »Lassen Sie mich in Ruhe!« Wieder war es still. Und diesmal hatte sie wirklich aufgelegt.
Ein paar Minuten blieb ich so sitzen und dachte über dieses kurze und seltsame Gespräch nach, das ja kein richtiges gewesen war. Dann wählte ich die andere, die Nummer des zweitenSartorius. Doch alles, was ich hörte, war das Besetztzeichen.
Den Nachmittag verbrachte ich damit, ein Schreiben an die Autorin des Buches über das Lebensborn-Heim in Hohehorst zu entwerfen. Ich berichtete ihr von meiner Entdeckung und dass ich auf der Suche nach meiner familiären Identität sei und anfragen wolle, ob sie mir den Kontakt zu einer Person vermitteln konnte, die sich im März 1944 dort aufgehalten hatte. Zu der Zeit also, in der das Foto von Oma Charlotte mit dem unbekannten Kind auf dem Arm entstanden war. Ich gab der Hoffnung Ausdruck, etwas über meinen leiblichen Großvater und mehr über das Leben meiner Großmutter in Erfahrung zu bringen. Dass Mutter sich umgebracht hatte und dass es eine seltsame Diskrepanz zwischen dem Geburtsdatum meiner Mutter im Mai 44 und dem geheimnisvollen Foto vom März 44 gab, erwähnte ich nicht. Ich wollte die Sache nicht unnötig kompliziert machen.
Es dämmerte schon und ich beschloss, den Brief sofort aufzugeben, auch deshalb, weil ich noch einmal frische Luft schnappen wollte. Ich packte mich warm ein, denn es war kälter geworden, schlug mir den Schal ein paarmal um den Hals und beschloss, mir auf dem Weihnachtsmarkt am Spittelberg Handschuhe zu kaufen. Vielleicht würde ich auch ein paar Weihnachtsgeschenke finden, für Sonja und Erna Buchholtz, vielleicht auch für Wolf, obwohl ich im Moment nicht gut auf ihn zu sprechen war. Ich warf den Brief ein, bummelte ein wenig über den Weihnachtsmarkt und blieb gleich beim ersten Glühweinstand hängen. Die dampfende Tasse in der Hand, stand ich an einer Ecke und blickte in die Gesichter der Menschen um mich her, die in lebhaften Gesprächen steckten, beobachtete ein junges Paar, das aneinanderklebte, und vermisste Wolf, obwohl ich ihn eigentlich nicht vermissen wollte. Ich liebe Weihnachtsmärkte, ich freue mich schon das ganze Jahr über darauf, aber ich finde, man muss zu zweit darüberbummeln.Und am schönsten ist es natürlich, wenn man verliebt ist. Vielleicht ist es ja gar nicht Wolf, den ich vermisse, dachte ich plötzlich. Vielleicht ist es nur die Sehnsucht nach etwas, das wir schon längst verloren haben.
Ich bestellte einen zweiten Glühwein, einen mit einem Extraschuss, und fühlte, wie ich zugleich leicht und schwer wurde und plötzlich zuversichtlicher war, aus welchem Grund auch immer. Ich würde schon noch erfahren, warum Mutter diesen Rechtsanwalt beauftragt hatte, ich würde vielleicht sogar mit jemandem reden können, der Oma Charlotte früher gekannt hatte, in einer vollkommen anderen Zeit. Immer schon hatte ich mehr darüber wissen wollen und ich erinnerte mich, wie ich sie manchmal nach dieser Zeit fragte, die für meine Generation so schwer vorstellbar ist. »Ach, Kindchen«, hatte sie dann immer geseufzt. Aber eine richtige Antwort hatte ich nie von ihr bekommen.
Vom Alkohol in eine kauffreudige Stimmung versetzt, erstand ich für Sonja eine türkisfarbene Bürste mit einer Meerjungfrau darauf, für Wolf einen fast runden türkisfarbenen Toaster, auf dem Strichmännchen um die Wette liefen, ein Paar Handschuhe und einen Schal und zu guter Letzt eine binäre Armbanduhr, so eine von der Sorte, bei der denkfreudige Menschen sich die Uhrzeit selbst ausrechneten. Obwohl ich fand, dass er das eigentlich gar nicht verdient hatte. Am letzten Stand sah ich schließlich eine Wärmflasche in Katzenform und kaufte sie für Erna. Und so war ich bester Laune, als ich mit meinen Tüten auf das Haus zuging und nach dem Schlüssel in meiner Tasche angelte.
Im
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