Herbstvergessene
ergreifen beginnt, ganz langsam, ganz leise zunächst, wie sie sich ausbreitet und schließlich in Übelkeit erregende Angst umschlägt. Und dann die Erkenntnis, dass etwas passiert sein muss. Die Tage danach: die Polizei, Anrufe bei allen möglichen Leuten, Freunden, Bekannten, in Krankenhäusern. Dann vielleicht Augenblicke der Hoffnung: Es ist niemand eingeliefert worden, auf den die Beschreibung passt. Doch wo ist er dann? Wo kann er sein? Und wieder die Polizei, die ihre Fragen stellt und mit ihnen ein ganz anderes, ein bis dahin ganz unbekanntes Gefühl heraufbeschwört: Wie war Ihre Ehe? Hatten Sie Trennungsabsichten? Hatte Ihr Mann eine Geliebte? Fehlt von ihrem gemeinsamen Eigentum irgendetwas? Gab es in letzter Zeit Überweisungen aufein Konto im Ausland? Oder wurden regelmäßig bestimmte Summen abgehoben? Kann es sein, dass er sich ins Ausland abgesetzt hat? Gab es finanzielle Probleme? Und sind Sie, wenn er tot ist, nicht Alleinerbin? Auf wie viel beläuft sich Ihr Vermögen? Von da an werden Zweifel die einzige Gewissheit im Leben sein: dass nichts sicher ist und alles möglich. Phasen des ohnmächtigen Zorns folgen auf Phasen der tiefen Verzweiflung, der Einsamkeit, und ständig ist da dieses Bild, das einem immer wieder erscheint: der Mann tot, mit verrenkten Gliedern und gebrochenem Blick irgendwo an einem Ort, den keiner kennt.«
Er sah an mir vorbei, hinaus in die beginnende Dämmerung. Ich fühlte mich irgendwie schlecht, denn ich war verantwortlich dafür, dass seine Stimme im Laufe seiner Erzählung immer hoffnungsloser geklungen hatte und dass in ihr eine Verzweiflung mitzuschwingen schien, die ihren Ursprung zwar in der Vergangenheit hatte, aber deswegen nichts an Intensität verloren hatte. Plötzlich sah ich das kleine Kind vor mir, den Jungen, der seinen Vater nie kennengelernt hatte. Und aus diesem Augenblicksgefühl heraus hörte ich mich sagen: »Es tut mir so leid. Ich habe Sie nicht aus Neugierde kontaktiert … und ich wollte nicht, dass all diese Erinnerungen wieder wach werden. Ich … habe noch andere Dinge bei meiner Mutter gefunden. Dinge, die Fragen nach meiner eigenen Vergangenheit aufwerfen. Nach dem Leben meiner Großmutter, nach meinem Großvater, meinem leiblichen Großvater, meine ich.«
Er sah mich nun aufmerksam an, die Traurigkeit in seinen Augen hatte plötzlicher Konzentration Platz gemacht. Doch er sagte nichts und ich fühlte mich aufgefordert weiterzusprechen.
»Ich habe Grund zu der Annahme, nein, falsch, es ist keine Annahme – ich weiß, dass meine Großmutter seinerzeit ungewollt schwanger wurde und dieses Kind auch zur Welt gebracht hat.«
»Das war sicher in damaligen Zeiten nicht so einfach. Und nun sind Sie auf der Suche nach Ihrem Großvater, verstehe ich Sie richtig?«
»Ja. Ich möchte wissen, wer er war, vielleicht lebt er ja sogar noch …«
»Das wäre erstaunlich. Wenn er nicht im Krieg umgekommen ist, dann ist das aus rein biologischen Gründen eher unwahrscheinlich. Er müsste sehr alt geworden sein.«
»Ich weiß. Es ist auch nur so eine Hoffnung. Vielleicht kommt es daher, dass ich keine leiblichen Verwandten mehr habe.«
»Und wie wollen Sie vorgehen? Ich meine, um ihn ausfindig zu machen?«
»Zunächst einmal werde ich diese Hohehorst-Spur verfolgen und dann …«
»Hohehorst? Sprechen Sie von dem Lebensborn-Heim?«
»Aber ja … dass Sie das kennen!«
»Ja.« Er räusperte sich, setzte sich auf seinem Stuhl zurecht und sagte: »Mein Vater war dort Belegarzt. Von 1941 bis Kriegsende.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Die Gedanken in meinem Kopf purzelten durcheinander und ich hatte Mühe, sie in eine Reihenfolge zu bringen. »Moment mal … aber das hieße ja, dass Oma Charlotte … ja, meine Großmutter und Ihr Vater müssen sich gekannt haben.«
Ich machte eine Pause und grübelte weiter. Roman Sartorius saß da, schweigend und mit halb offenem Mund. Er schien weit weg zu sein. Wie zu sich selbst sagte er schließlich: »Und das bedeutet auch, dass es Ihre Großmutter gewesen sein muss, die diesen Zeitungsartikel ausgeschnitten hat. Und das macht wiederum Sinn. Sie kannten sich.«
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Aber bitte.« Er sah mich ein wenig verwundert an.
»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich meine, dieses Thema ist heikel. Sie wissen, dass der Lebensborn eine Unterorganisationder SS war? Himmler war der Schirmherr … Na ja, war Ihr Vater überzeugter
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