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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Nationalsozialist?«
    In seinen Augen blitzte ein eigentümlicher Ausdruck auf, der jedoch so rasch wieder verschwand, wie er gekommen war. Er sagte: »Ich weiß es nicht. Ich habe meine Mutter nie danach gefragt.«
    Ich nickte und betrachtete ihn eingehend. Täuschte ich mich oder gab es da etwas, was Roman Sartorius wusste, mir aber nicht sagen wollte?
    »Einmal erzählte meine Mutter, dass mein Vater sich nie sehr für Politik interessiert habe. Er sei   … in erster Linie Arzt gewesen.«
    Ich holte tief Luft und sagte: »Ein unpolitischer Mensch also. Waren sie das nicht alle?«
    Er erwiderte meinen Blick und ich hätte beim besten Willen nicht zu sagen gewusst, was er in dem Moment dachte oder fühlte. Ich drückte meine Zigarette aus, zuckte die Achseln und fuhr fort: »Es gibt da etwas   … ein Manuskript, das meine Mutter einem Verlag geschickt hatte   …«
    »Ach ja? Was für ein Manuskript denn?«
    »Ich weiß auch nicht recht. Eine Art Autobiografie meiner Oma.«
    »Und   … was steht drin?«
    »Keine Ahnung. Ich habe den Verlag gebeten, mir eine Kopie zu schicken. Bei den Sachen meiner Mutter habe ich das Manuskript nicht gefunden.«
    Ich sah zum Fenster hinaus. Irgendetwas störte mich, in mir kroch das unbehagliche Gefühl hoch, dass etwas nicht zusammenpasste. Oder dass etwas ungesagt geblieben war. Aber wahrscheinlich täuschte ich mich, denn was für einen Sinn hätte es ergeben, nach all den Jahren ein Geheimnis um jene Zeit zu machen oder irgendetwas zu verleugnen? Verstohlen musterte ich Roman Sartorius. Er sah nicht aus wie ein Mann, der sich der Wahrheit, wenn sie unangenehm war, nicht stellte. Eine Weile lang sagte keiner von uns ein Wort.Wieder sah ich hinaus, betrachtete die Regentropfen, die von einer Windböe durcheinandergewirbelt wurden, die winzigen Lämpchen der Weihnachtsbeleuchtung, die um einen zurechtgestutzten Baum geschlungen war. Hier drin war es warm und anheimelnd, es duftete nach frischem Kaffee, natürlich auch nach Rauch, der ganze Raum erstrahlte unter dem Glanz der prächtigen Kronleuchter. Ich fing Roman Sartorius’ Lächeln auf, aber ich konnte es nicht erwidern. Ich konnte ihn bloß ansehen, seine blauen Augen, seinen leicht geöffneten Mund. Und auf einmal ertappte ich mich bei der Frage, wie es wäre, diese Lippen auf den meinen zu spüren. Ihn atmen zu hören, seinen Duft zu riechen. Ich schluckte, verwirrt von diesem Gedankenbild, das aus Gott weiß welchen Untiefen meines Körpers aufstieg. Nein, dachte ich. Ich werde mich hier nicht betören lassen. Ich bin hier, um Antworten zu bekommen. Nicht um Blicke mit einem Mann zu tauschen und mir Szenen vorzustellen. Abrupt heftete ich meine Augen auf den Tisch, straffte die Schultern. Und plötzlich fiel mir ein, was nicht zusammenpasste.
    »Was ist?«, fragte er.
    Ich schob die Kaffeetasse von mir, lehnte mich zurück und sagte: »Irgendwann im Krieg oder kurz nach Kriegsende ist meine Großmutter nach Süddeutschland gegangen. 1947 hat sie geheiratet. Einen Unternehmer vom Bodensee. Ich stelle mir gerade die Frage, wie jemand, der am völlig anderen Ende von Deutschland lebt, rein zufällig auf einen Artikel in den Husumer Nachrichten stoßen kann.«

 
    Eine Viertelstunde später brachte eine hübsche, aber schnippische junge Schwester, eine die sich mir als Else vorstellte, eine kalte Platte mit Brot, Wurst und Käse. Sie teilte mir mit, dass das Bad nebenan sei. Und dass ich das Tablett ausnahmsweise einfach so vor die Tür stellen sollte nach dem Essen. Ich aß in einer Atmosphäre angespannter Stille, in der ich jedes Geräusch überlaut hörte: das Klappern des Messers, die Tasse auf dem Unterteller, mein eigenes gehemmtes Kauen, das mir deplatziert erschien. In Anwesenheit dieser Frau, die sich völlig in ihr Schweigen zurückgezogen hatte und mit dem Rücken zu mir untätig auf dem Stuhl saß. Sie rührte sich auch nicht, als ich zehn Minuten später aufstand, meine Waschsachen aus der Reisetasche nahm und den Raum verließ.
    Das Marmorbad war rosa, warm und behaglich. Ich schloss die Tür hinter mir ab und setzte mich auf den Wannenrand. Und plötzlich war sie fort, die Anspannung, die mich seit meiner Abreise aus Königsberg eisern in ihren Klauen gehalten hatte, und ich spürte, wie etwas in mir aufstieg, wie die Verzweiflung, die ich bisher mühsam im Zaum gehalten hatte, sich Bahn brach. Ich schlug die Hände vors Gesicht und ließ die Tränen laufen, ein würgendes Schluchzen drang aus meiner

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