Herbstvergessene
Kehle. Was hatte ich getan! Ich war fortgegangen, hatte alles und alle hinter mir gelassen. Und es war die Konsequenz dieser Tat, die mir in diesem Moment, im Bad von Hohehorst, bewusst wurde. Dass ich aus meinem alten Leben herausgetreten war, dass ich jegliche Verbindung abgebrochen hatte, dass ich nie erfahren würde, wenn Paul zurückkehren würde. Und dass er, Paul, niemals etwas von seinem Kindchen wissen würde.
Ich musste eine Viertelstunde oder länger so dagesessen haben.Als meine Tränen versiegt waren, beugte ich mich über die Wanne, öffnete den Hahn. Heißes Wasser prasselte auf meine Hand und am liebsten hätte ich ein Bad genommen. Aber dann dachte ich an die teiggesichtige Frau nebenan. Hatte ich nicht schon zu viel Zeit verplempert, um jetzt noch baden zu können? Sicher würde sie bald schlafen wollen und meine Rückkehr in das Zimmer würde sie aufstören. Also wusch ich mich nur rasch am Waschbecken und verließ dann leise das Bad.
Im Korridor war es dunkel, ich drückte den Lichtschalter und tappte zurück zu meinem Zimmer. Darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, drückte ich die Klinke herunter. Aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Ich versuchte es noch einmal, mit mehr Kraft, aber sie ging nicht auf. Eine Weile lang stand ich unschlüssig herum, barfuß, im Nachthemd, mein Kleiderbündel unter dem Arm. Dann begann ich zu klopfen, erst leise, zögerlich, dann etwas lauter. Schließlich legte ich mein Ohr an die Tür und lauschte. Da, waren das nicht Schritte, sehr leise zwar, aber doch deutlich? Es folgte ein leichtes Knarzen des Parketts, dann wieder Stille. Ich konnte es nicht fassen, diese Frau hatte einfach abgeschlossen! Ein Bild blitzte vor meinen Augen auf: Frau Edelmann, die sich über mein Gepäck hermachte. Ich dachte an Pauls kleine Liebesbotschaften, die Briefchen, die er mir geschrieben hatte und die auf dem Grund meiner Tasche lagen, an das Sternenbild. Ohne große Hoffnung, etwas zu sehen, ging ich in die Knie, näherte mein Auge dem Schlüsselloch und spähte hinein. Im ersten Moment sah ich gar nichts. Doch als meine Pupille sich auf die Umrisse eingestellt hatte, begriff auch mein Gehirn, was es da erblickt hatte: ein menschliches Auge.
Von der Mariahilfer Straße in die Siebensterngasse ist es zu Fuß nicht weit. Und also ging ich zurück durch die Dunkelheit und den Regen, das Zischen der Autoreifen im Ohr. Mit einem Bedauern, das mich selbst überraschte und gegen das ich mich sofort innerlich wehrte, dachte ich daran, dass ich Roman Sartorius nie wiedersehen würde. Allerdings hatten wir Adressen ausgetauscht und vielleicht würden wir ja doch noch einmal voneinander hören.
Zurück in der Wohnung hatte ich wieder das Gefühl einer fremden Präsenz. Ich weiß nicht, ob es der Hauch eines Geruchs war, der nicht hierher gehörte, oder ob ich dabei war, ein zweites Gesicht zu entwickeln. Wahrscheinlich war es eher so, dass meine Fantasie Blüten zu treiben begann und ich mir Dinge einbildete, die nicht existierten. Trotzdem wurde ich den Verdacht nicht los, dass jemand in meiner Abwesenheit hier gewesen war. Das Gefühl hielt noch eine Weile lang an, bis ich in allen Zimmern die Lichter angeknipst und jeden Winkel ausgeleuchtet hatte. Ich kam mir lächerlich vor, aber nicht so sehr, dass es mich von meiner Aktion abgehalten hätte.
Dann ließ ich mich, noch immer im Mantel, in einen Sessel fallen. Es war kalt in der Wohnung, denn ich hatte vorm Weggehen die Heizkörper abgedreht, und nun saß ich da und dachte darüber nach, was ich heute von Roman Sartorius erfahren hatte. Im Grunde brachte es mich nicht weiter. Ich wusste nun zwar, dass Oma Charlotte und dieser Arzt sich gekannt haben mussten. Vielleicht war er es sogar gewesen, der mitgeholfen hatte, meine Mutter auf die Welt zu bringen. Aber vielleicht auch nicht, dachte ich. Hatten das damals nicht eherdie Hebammen erledigt? Und selbst wenn, dann bedeutete es auch nichts weiter. Roman Sartorius’ Blick fiel mir ein, dieser Blick, der mein Gesicht zum Brennen gebracht hatte und der in mir den Wunsch ausgelöst hatte, seine Lippen auf meinen zu spüren. Ich beschloss, Wolf anzurufen und mir die Gespenster von ihm vertreiben zu lassen. Da bemerkte ich, dass der Anrufbeantworter blinkte, drückte auf die Taste und hörte die Stimme von Lore Klopstock, die ich zunächst überhaupt nicht erkannte. Fast zeitgleich mit meinem Tastendruck klingelte es an der Wohnungstür, ich öffnete und blickte auf Erna, die mir
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