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Herbstvergessene

Titel: Herbstvergessene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Moment gegeben. Er hatte die ganze Zeit über seltsam abwesend gewirkt, was mich verunsicherte, sodass es mir noch schwerer fiel, das Ganze für ihn aufzurollen, nachdem ich so lange darüber geschwiegen hatte. Aber vielleicht wollte ich ja auch einfach nicht daran denken, wollte ein paar Tage lang das Päckchen mit den Schuldgefühlen ablegen, das Mutter mir durch ihren Sprung in den Tod auf den Rücken geschnallt hatte. Als ich Wolf am Dienstagmorgen sagte, ich wolle zu Charlottes Haus fahren, um dort auf dem Dachboden ein paar Dinge durchzusehen, nickte er nur und schlug auch nicht vor, mich zu begleiten. Und im Grunde war ich ihm dankbar dafür.
    Wolf hatte im Umgang mit mir schon immer »das rechte Maß« gefunden. Wenn ich an meine früheren Beziehungen zurückdenke, so sind sie allesamt mehr oder weniger daran zerbrochen, dass meine jeweiligen Lebensabschnittsgefährten (ein blödes Wort, aber es passte irgendwie!) mein Bedürfnis, Dinge für mich zu behalten, als Verrat ansahen oder mit Eifersucht darauf reagierten. Vor Wolf hatte das nie jemand verstanden, geschweige denn toleriert, und wenn ich damals ein paar Tage nach Ligurien abtauchte, um in Charlottes Ferienhaus zu lesen, zu töpfern oder einfach nur zu schweigen, dann glaubten sie, ich würde mich dort mit einem anderen treffen und sie betrügen. Unter diesen Zwangsvorstellungen hatte Wolf nie gelitten. Schon zu Beginn unserer Beziehung besaß er die Fähigkeit, Dinge ungesagt und ungefragt zu lassen, eine Tugend, die ich sehr schätzte und der wir das fünfjährige Bestehen unserer Beziehung verdankten.
     
    Die siebenköpfige Familie, die Charlottes Haus bewohnte, war – so vermutete ich zumindest aufgrund des Lärms, der durch die Scheiben drang – geschlossen anwesend. Im Vorgarten der alten Villa standen Fahrräder herum, ein paar
Bounty - Papiere
lagen auf dem Rasen, neben verdreckten Backförmchenund einer roten Plastikschaufel, die schon Jahre dort vor sich hin zu gammeln schienen. Vor der Haustür lagen drei Paar Inlineskater und aus dem Haus drang Kindergeschrei und schiefes Karaoke-Geheul. Auf mein Klingeln tat sich zunächst nichts. Nach dem dritten Mal öffnete ein etwa Dreijähriger »unten ohne«, der mich schweigend musterte. Von hinten rief jemand »Jonas?« und kurz darauf tauchte eine blonde Frau in Jeans und Bluse auf. Das musste Frau Stalmann sein. Noch unterwegs sagte sie: »Wieso hast du denn schon wieder deine Strumpfhose ausgezogen, meine Güte!« Zu mir gewandt sagte sie freundlich: »Sie müssen die Tochter von Frau Sternberg sein.« Sie nahm den Dreijährigen auf den Arm, und als ich nickte, sagte sie: »Ja, hallo, kommen Sie doch bitte rein«, und ich folgte ihr in die Küche.
    »Möchten Sie einen Kaffee? Ich hab grad welchen fertig.«
    Ich schüttelte den Kopf. Frau Stalmann sah mich an und sagte leise und etwas unsicher: »Das mit Ihrer Mutter tut mir leid. War sie   … krank?«
    »Ein Unfall«, sagte ich und presste die Lippen aufeinander.
    »Oh.« Frau Stalmann sah mich erschrocken an. Doch sie schwieg, obwohl ich in ihren Augen die stumme Frage lesen konnte. Dann sagte sie: »Noch mal mein tief empfundenes Beileid.« Vielleicht glaubte sie, ich sei gekommen, um ihnen den Mietvertrag zu kündigen. Und so beeilte ich mich, ihr den Grund meines Besuchs zu erläutern: »Wie ich Ihnen am Telefon bereits sagte: Ich möchte nur auf den Dachboden. Es gibt da ein paar Dinge, die ich suche.«
     
    Trotz der relativen Milde des Föhntags war es auf dem Dachboden kalt und ungemütlich. Der Wind pfiff ums Haus und ließ das alte Gebälk knacken und knarzen. Ich sah mich um. Da hatte ich einiges zu tun. Nach Omas Tod hatten Mutter und ich die meisten ihrer Möbel hier eingelagert, bis auf ein paar Stücke, die sie und ich uns als Andenken ausgesucht hatten. Der Anblick der alten Standuhr löste eine leise Traurigkeitin mir aus, die Sitzgarnitur im Chippendale-Stil erinnerte mich daran, wie Oma und ich es uns in meinen Ferien vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatten und uns alte Filme mit Willy Fritsch und Lilian Harvey angeschaut hatten. Obwohl Oma ihn nie so gern gemocht hatte wie Willy Birgel. Ich musste unwillkürlich lächeln. Kannte die heute überhaupt noch jemand?
    Ich beschloss, mich von hinten nach vorne durchzuarbeiten. Mit solchen Suchaktionen hatte ich ja inzwischen Routine. Ich knöpfte den Mantel zu, schlang mir den Schal um den Hals. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne und verbreitete ein funzeliges,

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