Herbstvergessene
Weg wählen sollen? Allerdings war es ja möglich, dass auch andere Dinge, die ich bisher nicht gewusst oder einfach nur ignoriert hatte, ans Tageslicht kämen. Zwischen den Jahren hätte ich bestimmt Gelegenheit, alles in Ruhe zu sichten. Denn irgendwo musstensich doch noch alte Briefe, Ansichtskarten und solche Sachen befinden. So etwas warf man schließlich nicht weg.
Nachmittags packte ich, ging noch einmal durch alle Räume und hinterließ die Wohnung mit dem Gefühl, nun für längere Zeit nicht mehr wiederzukommen. Ich drehte energisch den Schlüssel im Schloss und stellte mir vor, so die Gespenster der Vergangenheit und auch die Schuldgefühle, die mich seit Mutters Tod quälten, einzusperren, damit sie mich wenigstens über Weihnachten in Ruhe ließen. Ohne weiter nachzudenken, schleppte ich meine Reisetasche und die sperrige Papiertüte durch die Straßen, und erst, als ich schon in der U-Bahn stand, fiel mir ein, dass ich jetzt ja wohlhabend war und mir ein Taxi hätte bestellen können. Aber Gewohnheiten, die über die Jahre entstanden sind, legt man so schnell nicht ab. An der Station Herrengasse dachte ich flüchtig an Lore Klopstock, die nicht weit von hier wohnte. Ich musste sie anrufen, gleich wenn ich wieder daheim war.
Während das Flugzeug über die Rollbahn raste, erschien Roman Sartorius’ Gesicht auf meiner Netzhaut, seine ebenmäßigen Züge, seine Augen, wie sie mich angesehen hatten, und sein Mund, während er sprach. Später hatte er mir erzählt, dass er nicht mehr lange in Deutschland wäre – im Januar ginge er nach Florida, um dort die Leitung einer Spezialklinik zu übernehmen, und schon in den letzten Monaten sei er zwischen Husum und Miami hin- und hergependelt. Ich würde ihn niemals wiedersehen, überlegte ich, und als der Flieger in die Luft stieg und ich gegen die Lehne gedrückt wurde, tauchte der Name Hohehorst in meinem Kopf auf. Und ich dachte daran, dass Oma Charlotte und Roman Sartorius’ Vater zur gleichen Zeit an jenem Ort gewesen waren. Und dann fragte ich mich, ob Heinrich Sartorius auch so gut ausgesehen hatte wie sein Sohn.
Tatsächlich gelang es mir, die Festtage in relativer Sorglosigkeit, ja fast in Heiterkeit zu verbringen. Wolf um mich zu haben tat mir gut, auch wenn wir nach wie vor nicht viel miteinanderredeten und er etwas zerstreut wirkte. Die Besuche bei seiner Familie, über die ich früher nie nachgedacht hatte, machten mir in diesem Jahr Freude und ich genoss die Weihnachtsgans, die Bratäpfel und den selbst gebackenen Pfefferkuchen von Wolfs Mutter. Auf einmal erschien mir Wolfs Familie mit größerer Deutlichkeit und schärferen Konturen. Ich beobachtete, wie selbstverständlich sie miteinander umgingen und wie sicher sie zu sein schienen, dass es die anderen in ihrem Leben immer geben würde. Ich hatte mich in ihrer Mitte immer entspannt, fast schon geborgen gefühlt. Doch seit Mutters Tod war eine andere Nuance hinzugekommen, eine Art Dankbarkeit, so kam es mir vor. Ich, das verlorene, elternlose Einzelkind, fühlte mich aufgehoben im Schoß einer anderen Familie. Außer Wolf hatte ich nun niemanden mehr. Was für ein absonderlicher und auch absurder Zustand. Hatte nicht jeder irgendwen? Und sei es eine entfernte Cousine oder einen Onkel. Nur ich hatte niemanden.
Nachdem die Festtagsfreude sich etwas gelegt hatte und ich mich aus der Trägheit, die mit diesen Tagen einhergeht, gelöst hatte, fuhr ich am Tag vor Heilige Drei Könige endlich nach Lindau, um im ehemaligen Haus meiner Großmutter nach etwas zu suchen, von dem ich mir nicht vorstellen konnte, was es sein würde. Wie oft zwischen den Jahren war das Wetter fast österlich, und je näher ich dem See kam, desto milder und auch windiger wurde es. Ich spürte einen leichten Druck hinter den Augäpfeln, offenbar herrschte also Föhn. Von unterwegs rief ich den Frankfurter Rechtsanwalt an, in der Hoffnung, er möge trotz der Feiertage da sein, schließlich war der Dreikönigstag in Hessen ja ein normaler Arbeitstag. Doch es meldete sich nur der Anrufbeantworter mit der Auskunft, dass die Kanzlei erst ab 10. Januar wieder besetzt wäre. Auch von der Autorin hatte ich bis jetzt keine Antwort erhalten, was ich aber nicht weiter erstaunlich fand, denn schließlich musste mein Brief erst vom Verlag an sie weitergereicht werden.
Die Zeit zwischen den Jahren hatte ich eigentlich dazu nutzenwollen, Wolf auf den neuesten Stand meiner Nachforschungen zu bringen, aber es hatte nie den rechten
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